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Blind gehört Kent Nagano

„Das ist nicht meine Stimme, oder?“

Der in Kalifornien geborene Dirigent Kent Nagano hört und kommentiert eine Auswahl seiner Einspielungen.

vonMaximilian Theiss,

Kent Nagano, wie er in seinem Büro der Hamburgischen Staatsoper sitzt, ist einfach nicht richtig zu fassen. Man hat soeben den schwächsten Händedruck seines Lebens erhalten, der dennoch so voller Verbindlichkeit und Herzlichekeit war. Nun lehnt er sich weit auf dem Sofa zurück und hört seine Einspielungen an, minutenlang schweigend. Dann bricht es geradezu aus ihm heraus. Leise, kultiviert, aber tatsächlich: ein Wortschwall. Und so distinguiert diese Personifizierung des Siezens auch wirkt: Immer wieder streut der scheidende Staatsopern-GMD eine schelmische Bemerkung ein.

Zappa: Bob in Dacron

London Symphony Orchestra
Rykodisc 1995

Es klingt wie Zappa. Aber was war der Titel von diesem Stück? – Ah, „Bomb & Dacron“! Wir haben uns schon vor diesem Projekt kennengelernt, aber das war unsere erste richtige Zusammenarbeit. In den USA galt Zappa als musikalischer Grenzgänger, als Rockstar, der aber auch zum klassischen Musiker ausgebildet war. Er studierte Komposition, hatte auch eine enge Verbindung zu Edgar Varèse. Er schrieb diese Stücke für das Album auch in Standard-Notation. Ich hatte bis zu seinem Tod engen Kontakt zu ihm. Er blieb auch seiner eigenen Klang- und Kompositionssprache treu. Man hört sofort heraus, wenn ein Stück von Zappa stammt. Und trotzdem überrascht er einen immer mit seinem ganz eigenen Sinn für Ironie. Mal ist diese Musik sehr ernsthaft und seriös, dann wieder sehr provokativ. Für mich bedeutete diese Arbeit aber auch eine andere wichtige Kooperation, nämlich mit dem London Symphony Orchestra – ich war damals ja gerade mal Anfang dreißig. Da herrschte von Anfang an eine besondere Chemie. Das Orchester zeigte sich schon immer sehr offen für Neu- oder Andersartiges und war auch stets bereit für Experimente.

Adams: The Death of Klinghoffer – 2. Akt

London Opera Chorus, Orchester der Opéra de Lyon
Nonesuch 1991

Das ist lange her, Opéra de Lyon, eine Koproduktion. Ich erinnere mich an diese Aufnahmesessions: Wir haben die Oper in Brüssel uraufgeführt und später in Lyon gespielt. Dort spielte damals ein sehr junges Orchester mit vielen Menschen in den Zwanzigern, die älteren Leute waren so um die 35, also wirklich sehr jung. Die Arbeit damals war sehr intensiv. John Eliot Gardiner und ich waren die ersten Dirigenten damals, und dieses Orchester hat all das Repertoire zum ersten Mal gespielt. Das hatte immer so eine besondere Frische, die man nur dann fühlen kann, wenn ein Klangkörper hervorragendes Repertoire für sich entdeckt. So war das auch bei den Aufnahmesessions: Dieses junge Ensemble und John Adams’ Musik – da hat es einfach gefunkt, das war alles so organisch! Die Einspielung stammt aus einer Zeit, in der wir eigentlich ganz anderes Repertoire aufgenommen haben – Poulencs „Dialogues des Carmélites“, „Romeo und Julia“ von Prokofjew. Aber wir haben eben auch viele Uraufführungen gemacht.

Messiaen: Saint François d’Assise – Le prêche aux oiseaux

Hallé Orchestra
DG 1999

Ich habe mit Messiaen studiert und im Laufe der Jahre seinen sinfonischen Kanon dirigiert. Für mich war diese Arbeit an „François d’Assise“ Ende der Neunzigerjahre sehr emotional, diese Aufnahme haben wir ja ungefähr sechs Jahre nach Messiaens Tod gemacht. Er hat neben dieser Vogelpredigt aus der Oper noch weitere Vogel-Episoden geschrieben. Die Stelle, die wir gerade hören, klingt wie „Un vitrail et des oiseaux“, das er kurz danach geschrieben hat. Auf jeden Fall ist das ganz klar Messiaens Klangsprache. Die Entwicklung von Messiaen als Komponist ist faszinierend, weil sich seine Sprache nie radikal verändert hat und schon in den frühesten Werken seiner Zwanzigerjahre hörbar ist. Die ersten Vogelgesänge vertonte er in den Vierzigern, allerdings noch nicht so elaboriert wie in den späten Fünfziger- bis Siebzigerjahren. Anfang der Achtzigerjahre, als er „François d’Assise“ geschrieben hat, waren all seine Inspirationen aus den verschiedensten Musikkulturen und seine kompositorischen Konzepte ausgereift und vollendet. Damals wurde nicht so viel über diese Oper geschrieben, aber unter den Komponistenkollegen – gerade unter den jungen – hat es sehr starke emotionale Reaktionen gegeben, da sie im Werk eine Möglichkeit gesehen haben, wie die Evolution der Oper nach den genialen Schöpfungen von Puccini, Schostakowitsch, Britten und so weiter fortgesetzt werden, wie man mittels der Oper wieder Relevantes mitteilen kann. Messiaen selbst hat sehr oft gesagt, dass Oper vielleicht nicht der richtige Titel sei, sondern eher die Kategorie des Spectacle, die seit Langem in Frankreich existiert.

Saint-Saëns: Danse macabre

Orchestre symphonique de Montréal
Decca 2016

Aus dem Album „Danse macabre“, ich erinnere mich. Das war eine Idee von Decca. Das Hauptgefühl ist die französische Kultur. Aber man hört schon, dass Montreal eine sehr interessante Kulturgeschichte hat, mit sehr großem französischem Einfluss, aber nicht nur. Dorthin immigrierten viele Leute aus Irland, Schottland, Deutschland. Insofern hört man hier beim Orchestre Symphonique einen sehr komplexen Klang mit der Phrasierung und der souplesse, also der Geschmeidigkeit, der französischen Sprache – wir sprechen dort ja auch Französisch. Auf der anderen Seite hört man auch eine Frische und große Genauigkeit – was gerne als Stereotyp der Neuen Welt herangezogen wird. „Danse macabre“ war ein schönes Konzeptalbum, denn in Montreal beziehungsweise in der ganzen Provinz Québec haben wir eine große Tanztradition, die Leute dort sind sehr stark verbunden mit dem Tanz. Ich finde, auch das hört man schön heraus.

Martel: Where have you gone, my revolutionary friend?

Orchestre symphonique de Montréal
Sony Classiacl 2012

Wow! Das ist nicht meine Stimme, oder? (lacht) Ich kann mich nicht erinnern, dass wir diese Rezitation an den Beginn des Albums gesetzt haben. Wir haben das Repertoire von Beethoven neu profiliert während meiner Zeit in Montreal. Montreal hat eines der ältesten Orchester in Kanada mit einer viel längeren Geschichte, als man vermutet. Meine Vorgänger haben ein reiches Repertoire aufgebaut, hatten aber keinen besonderen Fokus auf Beethoven. Als ich nach Montreal kam, war es für mich wirklich wichtig, mit Bach, Mozart und Beethoven anzufangen. Wenn man keine enge Verbindung zu deren großen Stücken hat, fehlt etwas Entscheidendes, selbst wenn man ein noch so breites Repertoire beherrscht. Ganz historisch gesehen: Wie kann man zeitgenössische Musik spielen ohne ein komplettes Verständnis und eine umfängliche Erfahrung mit der Tradition zu haben, aus der sie stammt? Wie kann man Harmonie oder auch die Zerstörung der Harmonie verstehen, wenn man nicht die Fundamente von Modalität und Tonalität studiert hat? Die große Herausforderung bestand in der Frage: Was hat Beethoven mit Québec zu tun? Er war schließlich nie dort. Drei Jahre habe ich die Geschichte von Québec studiert. Dabei habe ich gelernt, dass das Gebiet auch geprägt war von der Napoleonischen Expansion in Nordamerika – zu einer Zeit, in der Beethoven aktiv war, der wiederum eine leidenschaftliche und komplizierte Beziehung zu Napoleon hatte. Diese Zeit also war für Québec prägend in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. In diesem Sinne ist Beethoven ein Teil der Kultur von Québec, ein echter Québécois (lacht).

Album Cover für Widmann: ARCHE – 4. Dies Irae

Widmann: ARCHE – 4. Dies Irae

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
ECM 2017

Ich arbeite mit Widmann seit vielen, vielen Jahren zusammen. Jörg Widmann war von Anfang an ein hochbegabter, talentierter, und ich würde auch sagen: ein „natürlicher“ Komponist. „Arche“ war konzipiert für die Eröffnung der Elbphilharmonie. Ich finde, das Stück ist eine Antwort auf die Frage, wofür das Investment in diese hervorragende neue Konzerthalle steht. Ja, sie wurde natürlich für uns gebaut. Aber sie ist genauso für die nächste und für die übernächste Generation gebaut als Statement, dass man hier in Hamburg die Musikkultur für essenziell hält, für einen festen Teil unserer Tradition. Deshalb sollte dieses neue Stück ein Signal in die Zukunft werden. Die Hamburgische Staatsoper hatte in ihrer Geschichte prägende Zeiten mit Händel, Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach, drei Komponisten, die sich mit Hingabe dem Oratorium zugewandt haben. Daher war mein Wunsch an Herrn Widmann: Können Sie bitte in unserer musikalischen Tradition dieses Oratorienformat bedienen, und vielleicht nehmen Sie auch einen Stoff aus dem Alten Testament, wie es Händel oder Telemann gemacht haben? Das Resultat war dann Arche. Ich bin bis heute sehr beeindruckt, wie aktuell diese Geschichte ist, besonders hinsichtlich unserer Klimakatastrophen: Genau das ist die Arche-Geschichte! Und wie Jörg das getan hat mit drei Chören, einem enormen Orchester mit Kammerorchester, verschiedenen Solisten und Kinderchor samt zwei Sprechern und einem Knabensopran! Genau das soll doch diese Konzerthalle ermöglichen: eine Versammlung der ganzen Gesellschaft, der ganzen menschlichen Familie.

Die Playlist zum Interview:

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