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Blind gehört Kian Soltani

„Dieses Atmen werde ich mir merken“

Cellist Kian Soltani hört und kommentiert Aufnahmen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonAndré Sperber,

„Einer geht noch!“ – An Ehrgeiz mangelt es Kian Soltani jedenfalls nicht. Obwohl die Zeit beim Blind gehört-Interview in den Proberäumen der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen bereits weit fortgeschritten ist, wird der österreichische Cellist des Ratens nicht müde. Zu groß ist die Neugier, wer sich wohl hinter der nächsten Aufnahme der geheimen Playlist verbirgt.

Haydn: Cellokonzert Nr. 1 C-Dur – 3. Allegro molto

Edgar Moreau (Violoncello), Il pomo d’oro, Riccardo Minasi (Ltg)
Erato 2015

(Orchestervorspiel beginnt)Verrücktes Tempo. Vermutlich Altstaedt. (Cello-Part beginnt) Nein, ich nehm’ alles zurück! Das ist nicht Altstaedt, das ist Edgar Moreau. Ich höre es an seinem Atmen zwischen den Tönen; auch an seinem Spiel natürlich: Dieses Stehenbleiben auf dem Ton, dieses Non-Vibrato, aber trotzdem quasi Sostenuto mit viel Kontakt auf der Saite, das ist sehr typisch für ihn. Er spielt unheimlich virtuos, ein absolut vollkommener Cellist. Das erste Mal habe ich ihn gehört, als er damals bei der Tchaikovsky Competiton teilgenommen hat. Er belegte den zweiten Platz, das war natürlich eine Sensation. Ich selbst hatte mich damals auch beim Wettbewerb angemeldet, wurde allerdings nicht angenommen. Zunächst war ich sehr enttäuscht, aber im Nachhinein war es wohl besser so, ich hätte mich nur blamiert.

Paganini: 24 Capricen

Yo-Yo Ma (Violoncello)
CBS Masterworks 1982

Das klingt so ein bisschen old school vom Spielstil und von der Art des Vibratos her. Hat das vielleicht Gregor Piatigorsky aufgenommen? Es ist auf jeden Fall jemand – ich tippe mal auf einen Mann – der stark von alten Vorbildern inspiriert ist. Es könnte beispielsweise Alban Gerhardt sein oder Heinrich Schiff. Aber es ist sehr schwer einzuschätzen, weil es in dem Paganini-Stück mehr um Technik und weniger um gesanglichen Ausdruck geht … Ah echt, es ist Yo-Yo Ma? Okay, wow! Dann lag ich ja gar nicht so falsch mit den alten Vorbildern. Die Aufnahme kenne ich gar nicht von ihm. Auf jeden Fall ist es phänomenal gespielt.

Elgar: Cellokonzert e-Moll – 1. Adagio-Moderato

Jacqueline du Pré (Violoncello), London Symphony Orchestra, Sir John Barbirolli (Ltg)
Warner 1965

Man denkt natürlich sofort an Jacqueline du Pré … Oh, sie ist es? Dann muss es eine sehr frühe Aufnahme sein. Das klingt sehr jung. Von 1965? Es ist so wahnsinnig ehrlich und teilweise „unperfekt“ gespielt, man hört auch ab und zu leicht unsaubere Töne, aber das ist gar nicht schlimm, sondern trägt nur noch mehr zum intensiven Ausdruck bei. Sie versteckt sich vor nichts, geht total ins Risiko. Eine fantastische Aufnahme.

Schubert: Du bist die Ruh D 776

Mischa Maisky (Violoncello), Daria Hovora (Klavier)
Deutsche Grammophon 1996

Maisky! Ich dachte ganz kurz, dass hier vielleicht meine eigene Aufnahme untergemischt wurde, aber das Klavierspiel von Aaron Pilsan hätte ich natürlich sofort erkannt. Das hier klingt ganz anders, und beim ersten Cello-Ton wusste ich, das ist Mischa Maisky. Er hat einen einmaligen, wiedererkennbaren Sound. Der Mann ist ein Unikat, ich bin ein großer Fan. Bei diesen gesanglichen Stücken ist es generell viel einfacher zu erraten, wer da spielt, als bei den rein technischen Stücken. Man erkennt ja einen Cellisten viel eher an der Expression als daran, wie schnell seine Finger sind. Yo-Yo Ma hätte ich eben auch sicher besser erkannt, wenn er eine Cantilene gespielt hätte.

J. S. Bach: Cello-Suite Nr. 4Es-Dur – 1. Prélude

Pablo Casals (Violoncello)
Warner Classics 1936

Casals! Man hört natürlich den alten Sound und er ist ja sowieso sehr eng mit Bachs Cello-Musik verbunden. Und auch vom Ausdruck her, vom Klang, vom Rubato erkennt man ihn sofort. Interessanterweise hört man hier aber auch gut, wie krass sich der Zugang zu Bach im Vergleich zu heute verändert hat. Ich spiele das ganz anders und kenne auch kaum jemanden, der das noch so spielen würde. Und trotzdem ist es, wenn Pablo Casals das so macht, total überzeugend.

Beethoven: Sonate Nr. 9 A-Dur op. 47 „Kreutzer“

Ivan Monighetti (Violoncello), Pavel Gililov (Klavier)
DUX 2013

Schwer zu sagen. Beethovens „Kreutzersonate“ ist eigentlich ein Stück für Violine, ich kenne nicht so viele Cellisten, die das eingespielt haben. Ich weiß ja nicht, ob Sie die Aufnahmen in der Playlist speziell auf mich abgestimmt haben, aber sonst würde ich aus sentimentalen Gründen sagen, dass es mein früherer Professor Ivan Monighetti sein könnte. – Richtig? Sehr gut! Ganze elf Jahre habe ich bei ihm gelernt. Jetzt wo ich weiß, dass er es ist, erkenne ich natürlich auch sein Spiel. Aber es war trotzdem ein bisschen gemogelt, weil ich es weniger am Klang, sondern mehr aus dem Kontext erraten habe. Ich hoffe, das ist erlaubt.

Dvořák: Cellokonzert h-Moll – 3. Finale

Kian Soltani (Violoncello), Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim (Ltg).
Deutsche Grammophon 2019

Oh, ziemlich schnelles Tempo. (Cello setzt ein) Schrecklich! Wer immer das ist, das ist sehr schlecht! (lacht). Spaß beiseite. Aber tatsächlich höre ich mir diese Aufnahme äußerst ungern an. Das war ein Konzert in der Berliner Philharmonie im Oktober 2018. Mit solchen Live-Mitschnitten tue ich mich immer ein bisschen schwer, denn man kann nicht wie bei einer Studioaufnahme alles perfektionieren, bis man zufrieden ist. Hier muss ich es nehmen, wie es ist. Am Anfang der Aufnahmen dachte ich gerade, es klingt ein bisschen nach alter Schule, aber das ergibt bei der Staatskapelle und Barenboim auch absolut Sinn. Man spürt bei beiden dieses Traditionelle und ich liebe diesen Klang sehr. Und das Konzert war natürlich ein wahnsinnig tolles Erlebnis, das ich nie vergessen werde.

Brahms: Klaviertrio Nr. 1 H-Dur – 1. Allegro con moto

Trio Wanderer
harmonia mundi 2006

Steven Isserlis! – Nicht? Ach, ich hätte noch einen Moment warten sollen. Es klingt auch wieder ein bisschen nach Yo-Yo Ma, aber den hatten wir schon. Das ist schwierig … Ach, das Trio Wanderer? Ah! Ja, die kenne ich, mit Raphaël Pidoux am Cello. Da wäre ich vermutlich nicht mehr draufgekommen. Kammermusik mache ich auch immer wieder und sehr gerne, in meinem Terminkalender liegt der Fokus allerdings meistens doch auf den Solokonzerten. 

Rachmaninow: Cellosonate g-Moll – 2. Allegro scherzando

Pablo Ferrández (Violoncello), Denis Kozhukhin (Klavier)
Sony 2021

Ich habe einen ersten Tipp, aber ich will nicht wieder den gleichen Fehler machen wie eben. Ach, ich haue einfach mal einen raus: Gautier Capuçon! – Schon wieder falsch? Okay, bitte noch nichts verraten, ich warte mal auf das zweite Thema, da hört man ein bisschen mehr vom Cellisten … (zweites Thema setzt ein) Ist das Pablo Ferrández? Ja, sobald er anfängt zu singen, erkennt man ihn. Wunderbar.

Ligeti: Cellosonate

Miklós Perényi (Violoncello)
ECM 2011

Das ist Ligeti. Ich kenne das Stück gut, habe es selbst aber noch nie öffentlich aufgeführt. Das hier ist vermutlich eine neuere Aufnahme, sehr clean, sehr sauber, sehr gesund gespielt. Super Technik, super Klang, so ein bisschen à la Müller-Schott. Aber schwer einzuschätzen, wer das spielt … Ah, Miklós Perényi. Ja, er setzt den Schwerpunkt oft nicht so sehr auf die Emotionen, sondern bleibt eher sachlich. Bei ihm steht meist die Struktur im Vordergrund. Das passt natürlich gut zu Neuer Musik und auch zu Komponisten wie Ligeti, Kodály und so weiter. Das ist genau sein Ding. Portamenti und Glissandi, all das gibt es hier nicht, es ist alles sehr positional gedacht, aber dadurch auch sehr besonders, wie er spielt.

Schostakowitsch: Cellokonzert Nr. 1 – 3. Cadenza

Anastasia Kobekina (Violoncello), Berner Symphonieorchester, Kevin John Edusei (Ltg)
Claves 2019

Es ist jedenfalls nicht Edgar Moreaus Atmen, das man da hört. Ich habe keine Ahnung. – Ach, ich wusste gar nicht, dass Anastasia Kobekina das Schostakowitsch-Konzert aufgenommen hat. Sehr spannend und super gespielt. Dieses Atmen werde ich mir merken. Bitte noch ein Stück, ich möchte auch mal wieder eins richtig erraten!

Vivaldi: Concerto für zwei Celli RV 531 – 2. Largo

Harriet Krijgh & Kaori Yamagami (Violoncello), Amsterdam Sinfonietta
Deutsche Grammophon 2019

Das wird schwer. Es ist ja eher unüblich, dass man ein Doppelkonzert aufnimmt. Wer mag das also sein? Die Verzierungen zwischendurch sind hier sehr durchdacht, sehr abgestimmt. Das durchbricht so ein bisschen die Illusion von Spontanität im Spiel, wenn beide Cellisten die Verzierungen genau gleich machen. Aber andererseits ist es eben eine Aufnahme, da hat man sich natürlich abgesprochen. Hier muss ich völlig ins Dunkle raten. Geben Sie mir einen Tipp. – Es sind zwei Frauen, sagen Sie? Dann ist vielleicht Harriet Krijgh dabei? Geht doch! Sehr schön.

Bruch: Kol Nidrei op. 47

Boguslaw Furtok (Kontrabass), hr-Sinfonieorchester, Peter Zelienka (Ltg)
Pan Classics 2016

„Kol Nidrei“ von Max Bruch. Warten wir auf den Cello-Einsatz. (schaut irritiert, als das Solo-Instrument einsetzt) Häh? Ist das wirklich der Anfang des Stücks? Wer das auch sein mag, er beginnt in der falschen Oktave, er müsste eine Oktave höher anfangen. Ist das ein Kontrabass, oder was!? (lacht) Großartig! Ich wäre fast drauf reingefallen! Aber nur fast.

Tschaikowsky: Pezzo capriccioso op. 62

Sol Gabetta (Violoncello), Münchner Rundfunkorchester, Ari Rasilainen (Ltg)
RCA 2006

Das muss Sol Gabetta sein. Ich erkenne es an dem leicht tippenden Geräusch, wenn sie die Finger auf die Saiten setzt. Wie auf einem Klavier. Es hat immer so ein leicht perkussives Element, das ist ganz typisch für sie. Und auch ihr Vibrato: Sie spielt mit sehr viel Kontakt auf der Saite, dadurch ist das kein kleines, enges Vibrato, sondern man spürt jede Schwingung, jede Amplitude sehr deutlich. Sol Gabetta und ich haben ja auch beim gleichen Lehrer studiert, auch beide elf Jahre lang, allerdings nicht zur selben Zeit. Aber ja, ihr Spiel kenne ich gut.

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