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Opern-Kritik: Salzburger Festspiele – Intolleranza 1960

Aberwitzige Aktualitätsbeschleunigung

(Salzburg, 15.08.2021) Luigi Nonos rituelles Massentheater „Intolleranza 1960“ gelingt unter dem flämischen Performer Jan Lauwers als ein weiteres Salzburger Mysterium.

vonRoland H. Dippel,

Ganz grün ist das Salzburger Festspielpublikum noch immer nicht mit dem Sozialisten und Schönberg-Schwiegersohn Luigi Nono. Dabei tat das Festival im Vorfeld viel für das eigentliche Prestigeprojekt der Jubiläumsfestspiele. Im Karl-Böhm-Saal gibt es seit 23. Juli die Ausstellung über „Nono & Vedova“ über die Zusammenarbeit Nonos und dem das Bühnenbild zur Uraufführung von „Intolleranza 1960“ am 13. April 1961 im Teatro La Fenice gestaltenden Künstler Emilio Vedova. Auch an bekennenden Worten gegen das lange Zeit an der Salzach bestehende Nono-Manko herrschte kein Mangel. Obwohl Neue Musik dort inzwischen wieder zur zentralen Programmatik gehört, endete der heftige Applaus an Mariae Himmelfahrt noch vor dem letzten Durchtreten der Mitwirkenden. Das kann nicht nur an der Musik gelegen haben, möglicherweise aber an der Überflutung des Publikums durch szenische Aktion, mit welcher der flämische Performer Jan Lauwers das 80 minütige Musikmonument über Ausbeutung, Gewaltanwendung und schließlich eine die kollektive Emigration erzwingende Flutkatastrophe darstellte.

Rituelles Theater eines Sozialisten

Heute darf man Nonos Musik trotz ihres immensen Anspruchs an Interpreten als schön empfinden. Trotzdem kommt „Intolleranza 1960“ wahrscheinlich nie ins Kernrepertoire. Denn dafür ist der Schwierigkeitsgrad zu komplex. 40 Jahre lagen zwischen der „Rosenkavalier“-Uraufführung 1911 und der ersten Salzburger Karajan-Produktion, während zwischen der Uraufführung und der Salzburger Erstaufführung von „Intolleranza 1960“ genau 60 Jahre vergehen mussten. Dabei ist Nono, der das Vermächtnis der Darmstädter Ferienkurse schöndenkende Neutöner, heute auch wegen des erforderlichen Elektro-Equipments ein verhältnismäßig selten gespielter Klassiker des 20. Jahrhunderts. Die Ängste konservativer Enthusiasten, dass Nonos Werk eine Gefahr für die traditionelle Opernkunst werden könnte, erwiesen sich als unbegründet. Andererseits widersetzte sich Nono immer dem Agitprop-Postulat. Für politisch konkret anwendbare Griffigkeit und Eingängigkeit ist seine Musik noch immer zu anstrengend und viel zu anspruchsvoll. Von deren ästhetischem Wollen und semantischer Überfülle ganz zu schweigen.

Szenenbild aus „Intolleranza 1960“
Szenenbild aus „Intolleranza 1960“

Nachdem Lauwers 2018 in Salzburg Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“ als Nackedei-Pantomime mit Ekel-Garnitur verstanden hatte, dient seine die personellen Massen ständig in sportlicher Höchstanstrengung haltende Tänzer- und Komparsen-Meute dem Anliegen Nonos weitaus besser als Romeo Castelluccis über 100 Salzburgerinnen für „Don Giovanni“. Lauwers ließ das turbulente Schlagen, Springen, Kopulieren, Quälen, Derwisch-Drehen und Arme-Reißen der Komparsen-Massen auch in Filmaufnahmen zuspielen. Entscheidend ist die Umdeutung seines politischen Musiktheater-Manifests. Während Nono seinen Arbeitsemigranten auf dem Weg von der Lohnfron und Erwerbsfront in ein Unrechtssystem und vom sozialen in ein ökologisches Katastrophengebiet schickt, wird hier der Mensch selbst dem Menschen zum Wolf. Bei Lauwers ereignet sich Unmenschlichkeit in ganz flachen Hierarchien: In Lauwers› und Paul Blackmans Choreographie fließt Beischlaf in Misshandlung. Die mit der dazu erfundenen Figur des Blinden Dichters nur sechs Solisten verschwinden in den Darsteller-Kohorten, tauchen wieder auf. Die Vision einer glücklichen Beziehung richtet rein gar nichts aus gegen die menschlichen Treibwerke und Gewaltmanufakturen.

Für die „Azione scenica“ ist die Felsenreitschule genau der richtige Aufführungsort, weil Nono mit diesem satten Chorstück raus aus den Opernhäusern und am liebsten ins Freie wie auf den Hauptplatz von Siena wollte. Ingo Metzmacher bleibt mit den Wiener Philharmonikern oft und sogar ohne Pultleuchten im Dunkeln. Lustvoll zählte er auf: 40 Streicher und 26 Bläser im Graben, 12 Trommler und drei voll geforderte Perkussionisten auf der Hinterbühne und den Seitenemporen. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor singt alles live, was bei der Uraufführung aufgrund der Schwierigkeiten vorab eingespielt wurde. Während sich zu Beginn Milizen wie in einem perfekten Thriller auf einen Verfolgten stürzen, badet das Auditorium in akustisch perfekt gefluteten Chor-Aussteuerungen. Erkauft wird die musikalisch-technische Perfektion mit einer Aufteilung zwischen dem sich nur selten ins szenische Getümmel werfenden Chor, während Lauwers› Needcompany-Ensemble und die in Salzburg rekrutierte Tanzsport-Soldateska das szenische Rennen anführt: Ohne Rücksicht auf Verluste und körperlichen Extremeinsatz! Es dürfte Nono gefallen haben, wie der Kunsttempel Felsenreithalle wieder zur Sportarena wird.

Szenenbild aus „Intolleranza 1960“
Szenenbild aus „Intolleranza 1960“

Oratorisches Chordrama

„Intolleranza 1960“ ist mehr szenisches Oratorium als Oper auch deshalb, weil die Solopartien zwar kräftefordernd, aber nicht besonders umfangreich sind. Auch deshalb brandet der Applaus des Premierenpublikums eher hymnisch flächendeckend als Einzelleistungen differenzierend auf. Sean Panikkar zeigt nach seinen charismatischen Leitungen als Dionysos in Henzes „Bassariden“ in Salzburg und an der Komischen Oper Berlin, dass man Neue Musik schön und zugleich ausdrucksstark singen und gestalten kann. Es liegt nicht an Sarah Maria Sun und Anna Maria Chiuri, wenn Nonos Ideal vom politischen Bewusstsein als Sinn einer Lebenspartnerschaft auch diesmal nicht ganz plastisch wird. Nach den Generationenwechseln in den 60 Jahren seit der Uraufführung kann man diesen utopischen Anspruch wahrnehmen und trotzdem die eigenwillige Schönheit der Musik goutieren.
Das Rituelle im Massentheater zeigt sich also weitaus affirmativer und wirkungsvoller als etwa bei den Produktionen in Stuttgart oder im Münchner Gärtnerplatztheater. „Intolleranza 1960“ gelingt als weiteres Salzburger Mysterium neben „Jedermann“ viel besser und stimmiger als Castelluccis verquarstete Mozart-Peformance.

Szenenbild aus „Intolleranza 1960“
Szenenbild aus „Intolleranza 1960“

Auch wegen der zum Premierendatum aberwitzigen Aktualitätsbeschleunigung. Die Vorstellungsserie findet eingekeilt zwischen den weltweiten Naturkatastrophen des Sommers 2021 und dem unfassbaren Regierungswechsel in Afghanistan statt. Den sich von seinem weißen Podest herunter begebende Blinde Dichter (Victor Afung Lauwers) braucht es demzufolge gar nicht, um die Immunität der Massen gegenüber ihren in Mythen und Poesie bewahrten Kollektiverfahrungen darzustellen. Lauwers sieht schon richtig, dass Gewalt und Leid auch ohne sichtbaren Druck von Gesellschaftsmaschinerien möglich sind. Brechts „An die Nachgeborenen“ zeigt im Epilog nicht nur die Hoffnung auf Besserung, sondern vor allem die Unfähigkeit der Massen zum Meistern existenzbedrohender Probleme. Gesellschaftliches Bewusstsein schützt im Furor der Beschleunigung nicht vor kollektiver Erstarrung. Die letzte Musiktheater-Premiere zum 100-Jahre-Jubiläum der Salzburger Festspiele zeigt diese hypertrophe Motorik am lebensbedrohenden Abgrund.

Szenenbild aus „Intolleranza 1960“
Szenenbild aus „Intolleranza 1960“

Salzburger Festspiele
Nono: Intolleranza 1960

Ingo Metzmacher (Leitung), Jan Lauwers (Regie, Bühne, Video & Choreografie), Paul Blackman (Choreografie), Lot Lemm (Kostüme), Ken Hioco (Licht), Huw Rhys James (Chor), Paul Jeukendrup (Sounddesign), Elke Janssens, Kasia Tórz (Dramaturgie), Sean Panikkar, Sarah Maria Sun, Anna Maria Chiuri, Antonio Yang, Musa Ngqungwana, Victor Afung Lauwers, Sung-Im Her, Misha Downey, Victor Lauwers, Yonier Camilo Mejia, Tänzer und Tänzerinnen von BODHI PROJECT und SEAD — Salzburg Experimental Academy of Dance, Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker

Weitere Termine am 20., 26. & 29.08. (Felsenreitschule)

Ausstrahlungen: 21. August 2021, 19.30 Uhr auf ARTE Concert – 21. August 2021, 22.15 Uhr in 3sat – 26. August 2021, 19.30 Uhr in Ö1

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