Im November reiste Wayne Marshall, britischer Dirigent, Pianist und Organist, nach Hamburg, um auf der Klais-Orgel der Elbphilharmonie zu spielen. Im Live-Stream beeindruckte er sein Publikum mit Improvisationen über Themen von Ludwig van Beethoven. Kurz vorher trafen wir ihn für ein Blind gehört-Interview, in dem er sich als Botschafter für das Repertoire der Orgel, das Instrument des Jahres 2021, sowie als stilsicheren Repertoire-Kenner präsentierte. Innerhalb von Sekunden erkannte er alle Stücke, die meisten Interpreten und oft sogar das Instrument, auf dem gespielt wurde.
Gershwin: Girl Crazy Ouvertüre
Wayne Marshall, Aalborg Symphonie Orchestra
Erato 2002
Das ist die Ouvertüre von „Girl Crazy“ von George Gershwin. Bin ich das am Pult? Wenn ja, ist das meine erste Aufnahme mit dem Aalborg Symphony Orchestra. Ich würde das jetzt komplett anders dirigieren. Mir wird oft ein besonderes Talent für die Interpretation von Gershwins Musik nachgesagt. Ich weiß nicht, ob ich mich als Experten bezeichnen würde. Ich weiß aber, dass ich ihn schon seit frühester Kindheit verehre. Als ich acht Jahre alt war, habe ich sein Concerto in F das erste Mal im Radio gehört. Diese Musik sprach zu mir wie keine andere zuvor. Ich war gebannt von diesem Klang und wollte das Werk unbedingt selber spielen. Später habe ich in der BBC gesehen, wie André Previn dieses Konzert gleichzeitig spielte und dirigierte! Das fand ich überwältigend. Und jetzt mache ich das. Dieses Stück war eine Initialzündung für meinen beruflichen Werdegang.
Bernstein: Somewhere
Paavo Järvi, City of Birmingham Orchestra
American Classics Essential 2008
Die Tänze aus der „West Side Story“ von Leonard Bernstein. Aber nicht von ihm dirigiert. Es ist ziemlich langsam. Wer könnte das sein? Michael Tilson Thomas? Okay, Paavo Järvi. Darauf wäre ich nicht gekommen. Bernstein ist ein Genie für mich. Er war in allem, was er getan hat, außerordentlich gut. Dirigieren, komponieren, Klavier spielen, moderieren … Leider habe ich ihn nie persönlich getroffen. Ich erinnere mich aber, dass ich mal eine Probe von ihm besuchen durfte. Ich studierte in den achtziger Jahren in Wien und er dirigierte gerade Mahlers 4. Sinfonie mit Knabenchor, was damals fast skandalös war. Dieses Bild von ihm mit weißen Hemd, Zigarette in der einen Hand und den Taktstock in der anderen – das ist noch sehr präsent.
Copland: Orgelsinfonie – 2. Satz
Leonard Bernstein, E. Power Biggs, New York Philharmonic Orchestra
Sony Classical 1997
Das ist Aaron Coplands Sinfonie für Orgel und Orchester, der zweite Satz, das Scherzo. Es ist sowohl für das Orchester als auch für den Organisten rhythmisch extrem schwierig. Das kann man ja hören – alles ist im „Off-Beat“ und wahnsinnig schnell. Tolle Musik. Das Stück ist übrigens Nadia Boulanger gewidmet. Und kein typisches Werk von Copland. Es sollte auf jeden Fall öfter gespielt werden. Ist das meine Aufnahme? Nein, schade. Dann ist es wahrscheinlich zumindest Bernstein, der dirigiert.
Guilmant: Sonate Nr. 1 – Finale
Olivier Latry
Naïve 2013
Das ist Olivier Latry an der Orgel von Notre-Dame in Paris. Er spielt Alexandre Guilmants Sonate Nr. 1, das Finale daraus. Das ist ohne Zweifel die beste Orgel der Welt. Ich war damals, als die Kirche brannte und dabei auch die Orgel zerstört wurde, wirklich schockiert und bete seitdem, dass dieses Juwel bald wieder vollständig restauriert wird. Der Klang raubt dir den Atem! Es ist einzigartig, wie die Musik dort verklingt. Das Instrument selbst gibt dir die richtige Energie, es zu spielen. Besser kann ich es auch nicht beschreiben. Du kannst an dieser Orgel nicht „versagen“.
Poulenc: Orgelkonzert g-Moll – 4. Satz
Cameron Carpenter, Christoph Eschenbach, Konzerthausorchester Berlin
Sony Classical 2019
Das ist wieder so ein Stück Musik, das wir öfter hören sollten: das Konzert für Orgel, Streicher und Pauken von Francis Poulenc. Das ist ganz sicher Cameron Carpenter. Ich kenne ihn sehr gut und schätze ihn als Freund und Musiker. Er hat eine ganz besondere Persönlichkeit, eine Stimme und etwas zu sagen. Er kann sich an der Orgel wunderbar ausdrücken und benutzt dafür eine außergewöhnliche Technik. Einzigartig. Wie auch sein eigenes Instrument, das er sich gebaut hat. Ich durfte es auch spielen. Das war eine große Freude.
Widor: Orgelsinfonie Nr. 5 op. 42 – 1. Satz
Iveta Apkalna
Berlin Classics 2020
Oh, wer spielt das? Ist das auch Cameron? Nein? Iveta Apkalna. Ich kenne sie nur vom Namen, aber das klingt wirklich gut! Charles-Marie Widor ist der Vater der französischen Sinfonik. Zusammen mit César Franck und Louis Vierne hatte er einen enormen Einfluss auf die französische Musik und das Repertoire der Orgel gehabt. Sie haben das Orchester zur Orgel gebracht oder umgekehrt. Das hat viel verändert für das Instrument. Und sie haben die Orgel in die Welt der Romantik getragen, was ein großes Verdienst ist. Diese Komponisten sind genauso wichtig wie Beethoven, Brahms, Mahler oder Bartók.
Händel: Orgelkonzert B-Dur op. 7/1 – 1. Satz
Ton Koopman, Amsterdam Baroque Orchestra
Apex 2007
Das ist ein Orgelkonzert von Georg Friedrich Händel, wahrscheinlich dasjenige in B-Dur. Das bin ich aber sicher nicht, der da spielt. Für Händels Musik braucht man eine bestimmte Persönlichkeit, die ich nicht habe. Dafür habe ich viel Johann Sebastian Bach gespielt. Es ist interessant, dass sich Bachs und Händels Musik in ihrem Wesen so unterscheiden, obwohl beide Komponisten der gleichen Zeit angehören. Es spielt bestimmt ein Barock-Experte wie Ton Koopman.
J. S. Bach: Toccata und Fuge d-Moll BWV 565
Simon Preston
Deutsche Grammophon 2004
J. S. Bach: Toccata und Fuge d-Moll BWV 565
Cameron Carpenter
Telarc 2008
Wir hören natürlich die Toccata und Fugue in d-Moll von Johann Sebastian Bach. Das erste ist Simon Preston und das zweite Cameron Carpenter. Cameron bringt die internen Stimmen der Komposition sehr schön hervor. Seine Interpretation ist orchestral gedacht. Gleichzeitig hat sie etwas sehr Dramatisches. Das Stück hört sich bei ihm fast so an wie eine Szene auf einer Theaterbühne.
Improvisations on a theme from Beethoven’s First Piano Concerto
Gabriela Montero
Warner Classics 2003
Das ist Gabriela Montero, die über Themen von Beethoven improvisiert, wie ich es gleich auch tun werde. Sie ist eine tolle Künstlerin. Sie schafft es, über jeden Komponisten zu improvisieren und etwas Eigenes, Einzigartiges daraus zu machen. Es ist so, als würde sie sagen: Das ist meine Stimme, mein Ausdruck, meine Welt und meine Freiheit. Und doch: Trotz aller Freiheit, die du vermeintlich hast, braucht jede Improvisation auch eine Struktur, um interessant zu sein. Improvisation ist eine Kunst, die ich selbst sehr liebe: Neue Formen zu finden, etwas zu kreieren, ohne jemanden zu kopieren, sich mit Musik zu beschäftigen in einer eigenen Sprache – das macht mir sehr viel Freude. Die Orgel ist ja durch ihre Bindung an die Liturgie seit jeher eng mit dieser Kunst verbunden. Auch ich habe dieses Instrument in diesem eher klassischen Rahmen kennen gelernt. Meinen Weg zur Improvisation fand ich dagegen durch den Jazz und dem Reichtum seiner harmonischen Welt.