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Blind gehört Theo Plath

„Jede Ersteinspielung ist ein Riesengewinn“

Fagottist Theo Plath hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonJan-Hendrik Maier,

Voreilige Rückschlüsse sind Theo Plath fremd. Im Interview hört sich der Solo Fagottist des hr-Sinfonieorchesters fast alle Aufnahmen bis zum Schluss an und lässt sich einzelne Stellen auch ein zweites Mal vorspielen, bevor er die Interpretation seiner Kollegen und die Stücke auf der geheimen Playlist mit Liebe zum Detail erklärt.

Hindemith: Fagottsonate – I. Leicht bewegt

Gilbert Audin, Éric Le Sage (Klavier)
Warner 2021

Da haben Sie mich direkt. Ich kann es mitsingen und habe es schon selber gespielt, das kann doch nicht wahr sein! (zweiter Satz beginnt) Ach, das ist Hindemith! Ein wunderschönes Stück, das viel zu selten aufgeführt wird. Mit dieser französischen Klanglichkeit des Basson und der Leichtigkeit war ich überhaupt nicht auf dem deutschen Komponistentrip. Ist das Marie Boichard? – Ach, mit Éric Le Sage am Klavier? Gilbert ­Audin!

Olav Berg: Vertigo für Fagott solo

Dag Jensen
MDG 1998

„Vertigo“ von Olav Berg mit Dag Jensen. Das ist die einzige Aufnahme des Stücks, aber auch Dags Klang erkennt man sofort am Glanz und dem freien Durchschwingen. Ich höre oft, man müsse bei zeitgenössischer Musik im Vorfeld viel über das Stück wissen, um damit etwas anfangen zu können. Doch gute Werke haben immer etwas Mitreißendes. Und Olav Berg kann man einfach zuhören. Während meines Studiums hat er in einem Workshop erklärt, er probiere einfach am Klavier ein paar Sachen aus und schreibe dann die Musik runter. Sie ist intuitiv, gestisch und bewegt. Als Interpret kann man aus jeder Figur etwas herausholen, das macht total Spaß!

W. A. Mozart: Fagott­konzert B-Dur KV 191 – III. Rondo

Mathis Stier, Ensemble Reflektor
Alpha Classics 2021

Das ist natürlich der dritte Satz des Mozart-Konzerts. ­Relativ flott, energetisch vom Fagott her, gefällt mir gut. Ich höre stellenweise Verzierungen, die ich nicht mache. Wahrscheinlich eine neue Einspielung, entweder Mathis Stier oder Sophie Dervaux. Können wir eine Minute zum Mittelteil zurückspringen? Bei Sophie klingt die Passage noch akzentuierter und schärfer. Dann ist es Mathis mit dem Ensemble Reflektor. Er hat einen sehr natürlichen musikalischen Fluss, alles perlt und ist sehr virtuos.

Vanhal: Fagottkonzert Nr. 2 C-Dur – II. Adagio

Sophie Dervaux, Mozarteum­orchester Salzburg
Berlin Classics 2022

Ich glaube, das kenne ich nicht. Das ist Frühklassik, oder? (Fagott setzt ein) Ist das Vanhal mit Sophie? – Schön! Ihren Klang erkenne ich sofort: stets weich und sehr gepflegt im Ton. Das Konzert ist wunderschön, verglichen mit Mozart vom Gehalt her vielleicht etwas auf der harmlosen Seite. Das kann man einfach spielen und genießen. Jede Ersteinspielung eines Fagottkonzerts ist ein Riesengewinn, denn so sehen auch Nicht-Fagottisten den Reichtum unseres Repertoires. Wir Fagottisten können ja einfach ins Regal zu den Noten greifen.

Jolivet: Fagottkonzert – I. Allegro giovale

Matthias Rácz, Stuttgarter KO, Johannes Klumpp (Ltg.)
Ars Produktion 2014

Jolivet! Ist das Matthias Rácz? (klatscht in die Hände) Das geht klanglich in die Richtung, in der auch ich mich zu Hause fühle: Dag Jensen, Thunemann-Nachfolge. Absolut virtuos gespielt, in den Sforzati langt Matthias gut rein. Die großen Sprünge so sauber hinzubekommen, ist sehr herausfordernd. An den kräftigen Stellen im Recitativo bleibe ich mehr im Geheimnisvollen, insgesamt ist unsere Herangehensweise aber ähnlich: Man merkt eben den Stall.

Saint-Saëns: Fagottsonate – II. Allegro scherzando

Klaus Thunemann, Ricardo Requejo (Klavier)
Claves Records 1991

Saint-Saëns, zweiter Satz. Bisschen ältere Aufnahme, würde ich sagen. Auf den längeren Tönen ist relativ viel Vibrato … Ich bin die ganze Zeit versucht, Klaus Thunemann zu sagen, aber ich glaube, er ist es nicht. Eigentlich passt es total gut, aber da ist eine Kleinigkeit im Klang, die ich nicht mit ihm verbinde. – Sie schauen so, als ob er es doch ist. Tatsächlich? Ich kenne vor allem seine Aufnahmen der Orchesterkonzerte. Er spielt immer extrem kontrolliert, aber hier gibt es kleine Momente, in denen er mit mehr Energie in die Töne geht, als ich von ihm kannte.

Say: Mai 2020 – III. Allegro assai, molto energico

Theo Plath
Hänssler Classic 2023

Ja gut, das bin ich mit Fazıl Says „Mai 2020“. Oliver Triendl hat für die CD ein Riesenwerk an unbekanntem Fagott-­Repertoire ausgegraben und dann auch noch diese neue Sonate. Ich war begeistert. Viele versuchen sich ja daran, traditionelle Musik in eine klassische Tonsprache zu übersetzen, Say gelingt es. Das Stück ist hochvirtuos, mit vielen wechselnden Rhythmen, aber man kann es gut spielen. Leider ist bisher kein direkter Kontakt mit Fazıl Say zustande gekommen, so dass ich die Bedeutung des Titels nicht im Detail erklären kann. Aber im Dezember ist er zu Gast beim hr-Sinfonieorchester, da kann ich ihn hoffentlich ausfragen!

Jiránek: Fagott­konzert – I. Adagio

Sergio Azzolini, Collegium Marinaum, Jana Semerádová (Ltg.)
Supraphon 2010

Das ist Sergio Azzolinis geniale Aufnahme mit dem Barockkomponisten, der total in Vergessenheit geraten ist. Wie hieß der nochmal? – Jiránek! Der Anfang mit den tiefen Streichern und darüber die Fagottkadenz, das ist so toll. Wenn es um musikalische Spannungen und das Ausloten solch harmonischer Spielereien geht, ist Sergio unerreicht. Immer wenn ich seine Aufnahmen höre, denke ich mir, es macht so viel Sinn, Barockmusik auf historischen Instrumenten zu spielen. Er kniet sich so in den Klang des historischen Fagotts rein, auf einem modernen Fagott wäre das kaum möglich. Beeindruckend, wer sich zu dieser Zeit in Dresden alles versammelt hat: Pisendel, Zelenka, Jiránek. Da wäre ich gerne dabei ­gewesen.

Nielsen: Bläserquintett – I. Allegro ben moderato

Ensemble MidtVest
cpo 2014

Das ist das Nielsen-Quintett, bei Aufnahmen bin ich aber nicht bewandert. Meine Aufnahme ist es jedenfalls nicht, die habe ich mir kürzlich angehört und muss gestehen, mein Anfang kommt mir heute ein bisschen artifiziell vor. Ich wollte damals vielleicht ein bisschen zu viel … Was der Kollege hier macht, gefällt mir aber gut, das ist ganz natürlich gespielt. Nielsens Musik ist oft schwebend, ein bisschen fragil, da darf man nicht zu konkret werden, sonst geht diese spezielle Farbe verloren. Das erfordert etwas Mut, auch mit meinem Quintett mussten wir das erst entwickeln. Die CD ist eine tolle Entdeckung für mich, danke.

R. Strauss: Duett-Concertino – II. Andante

Michael Werba, Peter Schmidl (Klarinette), Wiener Phil., A. Previn (Ltg.)
Deutsche Grammophon 1998

Ich liebe die Musik von ­Richard Strauss! Sein Duett-Concertino habe ich vor einem Monat selbst gespielt. Ist das eine Aufnahme aus den Neunzigern? Ich erkenne den Kollegen nicht, aber für meinen Geschmack gibt er hier zu viel Power. Der zweite Satz ist eine Art Verzauberungsszene, das darf ganz zart sein. Die Musik beruht auf einem Andersen-Märchen und hat ein bisschen was von einer süßen Romanze auf dem Land, aber auch vom „Rosenkavalier“. Das Werk geht in einem Wirbel durch, reißt einen mit und ist plötzlich fertig. Toll!

Williams: The Five Sacred Trees – I. Eó Mugna

Judith LeClair, London Symphony Orchestra, John Williams (Ltg.)
Sony 1997

Das müsste Judith LeClair vom New York Philharmonic sein. John Williams hat „The Five Sacred Trees“ für sie geschrieben. Ich habe direkt ­Assoziationen mit einem Urwald voller Tiere und Vögel, überall passiert etwas, und in der Mitte sitzt die Protagonistin und singt vor sich hin. Ich habe das Konzert im letzten Herbst in Frankfurt gespielt und hatte anfangs etwas Skrupel, ob ich es den Kollegen vorschlagen soll, denn beim ersten Hören ist das Stück alles andere als eingängig. Doch je mehr man sich damit beschäftigt und je weiter es voranschreitet, desto reicher wird es. Die Partitur ist stellenweise fast schwarz, so viele Noten stehen drin, aber die Musik bleibt stets durchsichtig, und es gibt keinerlei Balanceprobleme wie bei anderen Konzerten. Unglaublich gut geschrieben!

Gordon Jacob: Fagottkonzert – III. Allegro giocoso

Christian Kunert, Kammerakademie Potsdam
Genuin 2012

Das kenne ich wirklich nicht. Ein cooles und witziges Stück, gefällt mir sehr gut. Könnte aus den fünfziger Jahren sein. Ist das vielleicht Tomasi? – Ein Finalsatz? Können wir einmal in den ersten Satz springen oder wäre das geschummelt? … Ah, das ist doch das Françaix-Konzert, halt, nein, Gordon Jacob! Aber wer hat das aufgenommen? So ganz ins Blaue: Karen Geoghegan? – Nein? Dann weiß ich es nicht. Ah, Christian ­Kunert. Auf ihn wäre ich nicht gekommen. Das Konzert wird wenig gespielt. Ich habe es mal ein bisschen geübt, aber es gab nie die Gelegenheit für eine Aufführung, so hatte ich es nicht mehr auf dem Schirm.

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