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Opern-Kritik: Wiener Staatsoper – Don Carlo

Wenn der Dirigent die weiße Fahne hisst

(Wien, 26.9.2024) Kirill Serebrennikov scheitert an der Wiener Staatsoper ausgerechnet mit Giuseppe Verdis „Don Carlo“ – gleichzeitig sorgen Philippe Jordan und ein handverlesenes Protagonistenensemble für musikalische Prachtentfaltung.

vonRoberto Becker,

Wenn man bedenkt, dass die Werkstätten der Wiener Staatsoper, dem Vernehmen nach, ein ganzes Jahr an den vier Prachtroben gewerkelt haben, fällt selbst der Versuch, aus dieser Wiederbelebung vergangener Pracht szenisches Kapital zu schlagen, sehr mager aus. Sie gleichen aufs Haar denen, die man von historischen Porträts des Königs Philipp II., seiner Gemahlin, seines Sohnes und der Prinzessin Eboli kennt. Das Publikum bekommt das Ankleiden von vier Statisten in Giuseppe Verdis „Don Carlo“ als kleine Show nebenbei geboten. Es beginnt jedesmal mit der splitterfasernackten Rückenansicht und geht dann als kollektive Ankleideaktion kundiger Helfer bis zum letzten Knopf. Zusätzlich gibt es Einblendungen mit knappen Erklärungen zu den historischen Vorbildern der Opernfiguren, deren belehrender Gestus gerade in einem opernaffinen Publikum auch nicht jedem gefällt.

Szenenbild aus Verdis „Don Carlo“ an der Wiener Staatsoper
Szenenbild aus Verdis „Don Carlo“ an der Wiener Staatsoper

Zelebrierte Be- und Entkleidungsrituale statt Regie

Im zweiten Teil des Abends geht es wieder andersherum. Die Roben kehren wieder in ihre diversen Kartons und angestammten Lagerplätze zurück. Wenn die textilen Überbleibsel von Kaiser Karl am Ende aus einer speziellen Kühlkammer geholt und auf dem gut ausgeleuchteten Arbeitstisch in der Mitte der Bühne ausgebreitet, um untersucht oder behandelt zu werden, wie Staub zerfallen, ist das wohl ein Menetekel auf das, was eigentlich hätte erzählt werden sollen, aber eben auch zerfallen ist.

Diese exzessiv zelebrierten Be- und Entkleidungsrituale ersetzen im Grunde eine Personenregie und Interaktion, die bei diesem Regisseur eigentlich als gekonnt in Erinnerung geblieben sind. Das restliche Personal kommt mit Arbeitskitteln überm Alltagszivil aus. Oder man legt höchstens mal ein Kostüm an, das dunkel und stilisiert königliche Kleidung andeutet und den Gewändern von Ferne ähnelt. Allerdings trägt auch Posa ab und an so ein adaptiertes Gewand über seiner Alltagskleidung. Das Was-Wann-Warum des Wechsels bleibt im Halbdunkel eines diffusen Spiels zwischen den Ebenen, die die Regie präsentiert.

Szenenbild aus Verdis „Don Carlo“ an der Wiener Staatsoper
Szenenbild aus Verdis „Don Carlo“ an der Wiener Staatsoper

Im Institut für Kostümgeschichte

Das gesamte historische Personal wird bei Kirill Serebrennikov (der wie immer für Regie und Ausstattung verantwortlich ist) in ein Institut für Kostümgeschichte verfrachtet. Diese Idee ist von einem Besuch des Regisseurs im japanischen „Kyoto Costume Institute“ inspiriert. Auch das sterile Interieur der Einheitsbühne ist wohl diesem Vorbild geschuldet. Die Originalkostüme werden sachgemäß aus und wieder verpackt. Die kargen Wände reichen als Projektionsfläche für ein paar eingespielte Videos aus.

Es bleibt kaum nachvollziehbar, dass Serebrennikov so brillant gebaute Szenen wie die zwischen König Philipp und Posa, den Auftritt der Gerechtigkeit fordernden Königin oder das Kräftemessen zwischen Großinquisitor und König auf Institutsintrigenniveau herabstuft. Das steht nun tatsächlich mal in solch einem Gegensatz zur Dimension von Musik und Text, dass es die Interventionen des Publikums nachvollziehbarer macht und den Dirigenten Philippe Jordan zu einer ungewöhnlichen Geste animiert, die er sich vielleicht patentieren lassen sollte. Als die Proteste nicht enden wollten, steckt er ein weißes Tuch an seinen Taktstock und schwenkt es in die Höhe. Als Signal ans Publikum. Hatte er nicht seinen bevorstehenden Weggang von der Staatsoper in Wien mit dem begründet, was auf der Bühne so geboten wird? Trotz der unübersehbaren dramaturgischen und auch rein handwerklichen Schwächen dieser Eröffnungsinszenierung der neuen Spielzeit, muss Kunst natürlich auch (mal) scheitern dürfen.

Szenenbild aus Verdis „Don Carlo“ an der Wiener Staatsoper
Szenenbild aus Verdis „Don Carlo“ an der Wiener Staatsoper

Wo bleibt der wirkliche politische Sprengstoff?

Was allerdings wirklich verblüfft, ist, dass bei Serebrennikov entgegen seiner Ankündigung in diversen Interviews rein gar nichts auf die politischen Verwerfungen in Russland verweist, von denen gerade Serebrennikov ja das sprichwörtliche Lied singen könnte. Posas Forderung an den König nach Gedankenfreiheit ist einfach eine Nummer größer gedacht als die Kritik an den Arbeitsbedingungen der Textilarbeiter in der sogenannten dritten Welt. Und auch das Feuer, das Menschen bei lebendigem Leibe als Ketzer verbrennt, ist etwas anderes als die bedrohliche Verschmutzung der Weltmeere mit Plastikmüll. Hier verharmlosen metaphorische Gleichsetzungen schnell mal die von Menschen gemachte Barbarei. (Das ist genauso grundsätzlich falsch wie der Vergleich von Massentierhaltung mit einem KZ.)

Szenenbild aus Verdis „Don Carlo“ an der Wiener Staatsoper
Szenenbild aus Verdis „Don Carlo“ an der Wiener Staatsoper

Famoses Zusammenspiel von Orchester und Protagonisten

Aber abgesehen von solchen Spekulationen über Jordans spontanes Hissen der weißen Fahne: er und sein Orchester retteten den Abend – und das in einem festen Bündnis mit den Protagonisten. Wobei man beim Schlussapplaus auch bei denen eine gewissen Distanz zur Regie zu spüren meinte. Was den Abend auszeichnet, ist das Zusammenspiel von Orchester und Protagonisten, die sich gegenseitig auffangen und anregen. Asmik Grigorian spielt für ihre Elisabetta eine Mischung aus jugendlichem Charme und Reife aus, die überzeugt, und sich zudem für ihre letzte große Arie nochmal in der Intensität steigert. Eve-Maud Hubeaux stehen alle Farben für eine auftrumpfende und dann tief berührende Eboli zur Verfügung. Bei den Männern imponiert Roberto Tagliavini mit seinem markant gefühlvollen Bass ebenso wie Étienne Dupuis als ein Rodrigo mit dem Habitus eines engagierten Aktivisten von heute. Dmitry Ulyanov muss das Furchterregende des Großinquisitors allein durch seine stimmliche Wucht beglaubigen. Joshua Guerrero ist ein Don Carlos, der sich bei seinem Ringen um ein überzeugendes Rollenporträt nicht schont und bis an seine Grenzen geht. Das Publikum feierte die Protagonisten und sammelte nochmal allen Unmut, um das Regieteam nach Kräften auszubuhen.

Wiener Staatsoper
Verdi: Don Carlo

Philippe Jordan (Leitung), Kirill Serebrennikov (Regie, Bühne & Kostüme), Galya Solodovnikova (Ko-Kostümbild), Evgeny Kulagin (Choreografie & Regieassistenz), Olga Pavliuk (Mitarbeit Bühnenbild), Franck Evin (Licht), Ilya Shagalov (Video), Daniil Orlov (Dramaturgie), Roberto Tagliavini, Joshua Guerrero, Étienne Dupuis, Dmitry Ulyanov, Ivo Stanchev, Asmik Grigorian, Eve-Maud Hubeaux, Ilia Staple, Hiroshi Amako, Ileana Tonca, Chor und Orchester der Wiener Staatsoper





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