Richard Strauss‘ letzte Oper, uraufgeführt mitten im Zweiten Weltkrieg im Nationaltheater München, wird als Diskurs über Musikästhetik, tönende Musiktheatertheorie und Bühnenkunst fast immer zum Fallstrick. Ist dieses „Capriccio“, das Treffen von Künstlern und adeligen Kunstliebhabern im Salon der Gräfin Madeleine bei Paris 1775, mehr als eine eskapistische Flucht von Richard Strauss und des dichtenden Staatsintendanten Clemens Krauss? Was war in diesem Textbuch als Andeutung der allgemeinen Verrohung im Nationalsozialismus gemeint, was als Verdrängung? Oder erfüllten die von den Machthabern privilegierten Künstler 1942 in der verschärften Kriegssituation opportunistisch und passgenau die Forderung „No Politics“, wie es das Forschungsprojekt „Bayerische Staatsoper 1933 bis 1963“ vor kurzem darstellte?
Für Hörer enthält „Capriccio“ trügerische Herausforderungen: Die vom Komponisten geforderte Reaktionsgeschwindigkeit auf die blitzgescheiten Rededuelle werden am Ende mit dem wunderschönen Schlussmonolog der Gräfin Madeleine belohnt. Fragwürdig oder verklärend? Das ist eine der vielen Fragen an dieses Opus.
Distanz zu fragwürdiger Schönheit
Was sich Clemens Krauss an Bildungsdetails und Richard Strauss an kleinzelligen Motiven vom Barock bis zum eigenen Werk einfallen ließen, kann kein künstlerisches Produktionsteam zur Gänze visualisieren. An der Oper Frankfurt merkt man die große Anstrengung mit diesem Werk bei Sebastian Weigle, der mit dem Opern- und Museumsorchester seinen auch auf CD dokumentierten Strauss-Zyklus fortsetzt, ebenso wie in der Regie von Echo-Preisträgerin Brigitte Fassbaender, die früher selbst oft die Schauspielerin Clairon gesungen hatte. Distanziert, ohne rechten Strauss-Glanz wirken die ersten Szenen aus dem Graben. Auch später, wenn die komödiantischen Streitigkeiten des Dichters Olivier und des Komponisten Flamand um die von ihnen geliebte Mäzenin in Fahrt kommen, spürt man die abseitige Ferne des Produktionsteams, die sich auch auf die Musik zu legen scheint. Man will auf keinen Fall blinde Verstrickungen in jene Emotionen, die diese Oper gegen alle distanzierenden Behauptungen enthält.
Paris 1942
Brigitte Fassbaender unterlegt den Konversationen eine erfundene Parallelhandlung. Gräfin Madeleine entdeckt in dem Theaterpraktiker La Roche einen Gesinnungsverwandten und wird im Widerstand gegen die deutschen Besatzer aktiv. Am Ende nimmt sie in prunkvoller Rokokorobe, in der sie schönheitstrunken den Schlussmonolog zelebriert, Abschied von ihrer Vergangenheit als Kunstmäzenin und wagt mit bewaffneten Dienern den Aufstand zur „Libération“. Man muss in den über zwei Stunden bis dahin sehr genau beobachten, was in diesem gläsernen Gartensaal mit Barockbühne vor sich geht. Denn Brigitte Fassbaender, die mit dem hervorragenden Frankfurter Ensemble einmal mehr subtile Charaktere modelliert, agiert diesmal in Feinheiten an der Grenze zum Nicht-Bemerkbaren. Dramatischer Aufbau und engmaschige Komposition dieser Oper lassen ihr keine andere Wahl, weil sie alles Vergröbernde scheut.
Bei den Figuren bis zu jener Tänzerin, mit der La Roche offenbar erotisch verbandelt ist, stehen Gefühle und Affekte im Vordergrund. Das mit vorsätzlich lückenloser Schönheit durchwirkte Werkgespinst erweist sich für sensible Kontraaktionen als äußerst schwer nutzbar. Das macht den Regieansatz nicht einfacher, dessen Haltung sich zu den Zitaten und anspruchsvollen Geistesspielereien der Oper als ebenbürtig erweist.
Gräfin Camilla Nylund mit überirdischen Pianokulturen und Finessen der Diktion
Johannes Leiacker stützt die Psychogramme mit sehr realistischen Kostümen der vierziger Jahre. Zum vorsätzlichen Bruch gerät Madeleines Schlussmonolog, den Camilla Nylund im bis in die hinterste Bühnentiefe verlängerten Gartensaal mit überirdischen Pianokulturen und Finessen der Diktion feiert.
Doch das goldene, alles durchdringende Licht dieses Herbsttages wirkt falsch, ja verlogen. Unter diesen Farben stehen Irritationen wie aus einem Film Noir: Der schon etwas größere Junge, der auf den Knien rutschend Spielzeugpanzer durch den Salon schiebt, bis zum Haushofmeister von Gurgen Baveyan, dessen fast geheimnisvolle Überpräsenz aus „Casablanca“ stammen könnte. In der großen Ansprache des Theaterdirektors La Roche überfluten Diaprojektionen von Kriegszerstörungen den kargen Saal und vernichten die mit Eleganz bewahrten kostbaren Augenblicke. Der bei der Probe eingeschlafene Souffleur Taupe und in Wagner-Maske zur recht kräftigen Lemure werdende Graham Clark ist hier ein potenzieller Nazispitzel.
Entbehrungsreich
Man muss dieser Produktion hoch anrechnen, dass sie den schönen „Capriccio“-Schein entzaubert, darüber aber nicht ins Dumpfe absackt. Die Solisten haben und geben an charakterisierender Stimmgewandtheit alles. Es fällt schwer, sich für einen Favoriten zu entscheiden: Ob für die sagenhafte Clairon von Tanja Ariane Baumgartner, den leichtfertigen Witz von AJ Glueckert als Flamand, Daniel Gluckhardt als dessen Grobheit mit Eleganz untermischenden Konkurrenten Olivier oder Gordon Bintner als in die eigenen Geistesblitze verliebten und flirtsüchtigen Grafen.
Schöne vergangene Opernzeit
Der Theaterdirektor La Roche ist mit etwas müder Nonchalance, dann wieder mit der Leidenschaft des echten Enthusiasten Stichwortgeber und Schattenmann. So doppelbödig durchdringend wie von Alfred Reiter hat man seine große Ansprache selten gehört. Jedes Wort meint auch ohne szenische Bestätigung Anderes neben dem Offenkundigen. Und Gräfin Madeleine, diese allerletzte Projektion schönerer, vergangener Opernzeiten vor der totalen Vernichtung in den letzten Kriegsjahren? Camilla Nylund zeigt zu Beginn etwas unruhige Nervosität und positioniert sich als Königin des Abends spätestens ab dem fast operettenselig ausagierten Terzett, in dem durch sie das von Olivier gedichtete und von Flamand für sie komponierte Sonett zur Klangwolke wird. Zur Königin ohne Zepter wächst sie hoch, im textilen und vokalen Prunkornat.
Wider das berauschende Glitzern
Das neue Frankfurter „Capriccio“ ist vielleicht noch komplizierter als andere Produktionen dieser Oper. Gegen die geschmeidigen Erfindungen des alten Richard Strauss und das berauschende Glitzern der Partitur setzen sich Brigitte Fassbaender und Sebastian Weigle nachdrücklich zur Wehr: Hier wird der schwere Weg zum Schönen das bewegende und nachdenkliche Ereignis, aber nicht die Schönheit selbst und ganz sicher nicht Schönheit als Katastrophen überkleisterndes Narkotikum. Das geschieht in sinnfälliger Affinität, ohne mit Glättungen zu kapitulieren. „Verliert man nicht immer, wenn man gewinnt?“, fragt Gräfin Madeleine. Sie hat Recht. Folgerichtig blickt die verliebte Madeleine bei Brigitte Fassbaender nicht in den Spiegel, sondern frontal ins Publikum. Der Kampf mit dieser allzu verführerischen Oper darf noch nicht zu Ende sein.
Oper Frankfurt
R. Strauss: Capriccio
Sebastian Weigle (Leitung), Brigitte Fassbaender (Regie), Johannes Leiacker (Bühne & Kostüme), Joachim Klein (Licht), Camilla Nylund (Gräfin Madeleine), Gordon Bintner (Graf), AJ Glueckert (Flamand), Daniel Schmutzhard (Olivier), Alfred Reiter (La Roche), Tanja Ariane Baumgartner (Clairon), Graham Clark (Monsieur Taupe), Sydney Mancasola (Sängerin), Mario Chang (Sänger), Gurgen Baveyan (Haushofmeister), Frankfurter Opern- und Museumsorchester