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BLIND GEHÖRT CHRISTIANE KARG

«Es braucht die Einmaligkeit des Konzerterlebnisses»

Die Sopranistin Christiane Karg hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass sie erfährt, wer singt

vonThomas Jakobi,

Obwohl Christiane Karg bereits international auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu hören ist – im Erzählen hat sie sich ihren unverkennbar bayerischen Tonfall erhalten. Aus Feuchtwangen stammt die junge Sopranistin, am Mozarteum Salzburg erhielt sie ihre Ausbildung. Es folgte ein Engagement im Hamburger Opernstudio, ein wichtiger Schritt: „Ich dachte nach dem Studium, jetzt kommt die große Welt – und dann kam ein ganz neuer Anfang mit kleinen Partien. Es war gut, dass ich da nochmal in die Lehre gegangen bin, ich durfte neben unglaublich tollen Leuten singen, ich habe sehr viel gelernt!“ Was sich offensichtlich bewährt hat: Seit 2008 ist sie Ensemblemitglied an der Frankfurter Oper, war bei den Salzburger Festspielen, dem Glyndebourne Festival und mit der Dresdner Staatskapelle zu hören. Bereits für ihre erste CD mit Lieder-Aufnahmen erhielt sie 2010 einen „Echo Klassik“. Nun hat sie gerade einen weiteren Schwerpunkt ihres Repertoires auf CD gebannt: Opernarien von Mozart, Gluck und Gretry. Auch Mozarts Frühwerk Mitridate ist dabei, das sie bei unserem „Blind gehört“ kommentiert – wobei sie den Vergleich mit ihren Kolleginnen Cecilia Bartoli und Natalie Dessay nicht scheut.

Schumann: Der Nussbaum op. 25 Nr. 3

Vesselina Kasarova (Mezzosopran),
Friedrich Haider (Klavier)

1999. BMG Classics

(Nach wenigen Tönen) Das ist Vesselina Kasarova, ganz klar. Die Stimme erkennt man sofort. Ich bin ein großer Fan von ihr, auch wenn sie in letzter Zeit manchmal etwas in der Kritik stand. Sie hat ihre ganz unverwechselbare Stimme, ihren ganz eigenen Stil, und sie steht immer zu dem, was sie macht. Im ersten Moment ist man vielleicht irritiert, weil man denkt, die Stimme passt nicht so zum Lied-Genre, man kennt sie ja eher als Opernsängerin. Außerdem merkt man beim Lied-Repertoire deutlicher, dass sie keine Muttersprachlerin ist, da ist natürlich immer eine kleine Färbung. Als Deutsche würde ich zum Beispiel die Passage mit dem Wort „flüstern“ noch stärker ausschmücken. Aber das macht sie eben anders, und es stört mich gar nicht; man merkt dann schnell, dass es doch passt und konsequent zu Ende gedacht ist – sie findet auch hier ihren eigenen Weg. Auch der Klavierpartner ist daran beteiligt – die beiden stimmen einfach sehr gut zusammen, wie er sich manchmal stärker einbringt und dann wieder ganz zurücknimmt. So kann sie ihre Linien aufbauen. Man spürt einfach, dass das mit ganz viel Liebe und Wärme interpretiert ist!

Brahms: Über die Heide op. 86 Nr. 4

Angelika Kirchschlager (Sopran)
Graham Johnson (Klavier)

2008. Hyperion  

Das Lied kenne ich sehr gut, das habe ich gerade vor kurzem gesungen. Ich weiß auch, dass ich die Sängerin kenne; aber ich bin mir gerade nicht ganz sicher… Jedenfalls ein sehr schöner, warmer und runder Ton; da hört man die ganze Tiefe und Melancholie von Brahms! Sie singt in schönen Bögen: An manchen Stellen geht die Stimme auf und strahlt, geht aber dann auch wieder ins Piano zurück. Das ist schön geschmeidig und flexibel, auch die Textausdeutung ist bemerkenswert. Ich finde aber, der Pianist ist etwas weit im Hintergrund. Das kann natürlich auch an der Abmischung liegen. Aber ich meine, er könnte sich auch musikalisch mehr einbringen, mehr ein gleichwertiger Partner sein.

Hugo Wolf: Ich hab in Penna einen Liebsten wohnen

Christiane Oelze (Sopran)
Rudolf Jansen (Klavier)

2002. Berlin Classics

Das erinnert mich an Anna Prohaska… Nein? Ach, Christiane Oelze, da wäre ich jetzt nicht so schnell drauf gekommen. Das ist ein ganz gemeines Stück, dieses letzte aus dem italienischen Liederbuch von Hugo Wolf: Nur 50 Sekunden, und dann mit diesem humoristischen Text, aber technisch sehr, sehr schwierig. Ich finde es hier etwas zu verhalten im Tempo. Allerdings ist man da auch sehr auf das Publikum angewiesen, in einer Studio-Produktion traut man sich nicht so viel! Ich habe das Lied oft gesungen, aber nur live, nicht in einer Produktion. Es braucht diese Einmaligkeit des Konzerterlebnisses, würde ich sagen; da traut man sich mehr. Es fällt auch auf, dass sie so gut wie gar kein Portamento einbringt, das könnte man zum Beispiel auch in der Schlusswendung machen – das Lied steht ja meistens am Schluss einer Konzert-Halbzeit. Das wird dann einfach lebendiger, vielleicht auch „schmutziger“. Davon fehlt mit hier etwas, das ist mir ein bisschen zu ordentlich, vielleicht zu perfekt. Ich denke, bei Wolf muss man sich einfach trauen, auch wenn dann mal ein schräger Ton dabei ist. Aber davon abgesehen finde ich, sie macht das sehr gut, da hat sie sicher das Beste aus der Studio-Situation rausgeholt. Die Stimme klingt sehr klar und frisch, auch die Artikulation ist sehr gut. Der Pianist ist ebenfalls perfekt; aber auch hier: Beim Schluss-Lauf würde man in der Live-Situation vielleicht eine größere Steigerung machen…

Mozart: Mitridate. Al destin, che la minaccia (Aspasia)

Natalie Dessay (Sopran)
Les Talens Lyrics

Christophe Rousset (Leitung)

1998. Decca

(Nach einigen Passagen) Patricia Petibon? Nein? Ach so, Natalie Dessay, ja, die sind ziemlich ähnlich… französische Schule, unglaublich präzise. Das ist eine meiner Lieblingsopern von Mozart, ich finde die frühen Mozart-Opern ganz großartig. Und sie macht das einfach brillant. Die Koloraturen sind Wahnsinn, gestochen scharf, das kann man nicht besser singen – eine ganz klare Stimme. Die Schwierigkeit ist, die Tiefen so zu haben und trotzdem in der Höhe so klar zu sein, da muss ich sagen: Chapeau! Man hört auch, dass sie das italienische Repertoire gesungen hat, weil die Stimme sehr flexibel klingt; sie bringt ein ganz schönes „mezza di voce“, das man sonst eher vom Belcanto kennt. Von der Kadenz war ich überrascht, das habe ich nicht so erwartet. Ich hätte da eher etwas mit mehr Wiederkennungswert aus der Arie genommen. In der zweiten Hälfte hat sie ziemlich stark variiert, was man aber auch bei Mozart machen kann, das gefällt mir wieder sehr. Das einzige, was man vielleicht an ihr kritisieren kann, ist, dass ich mir manchmal etwas mehr Text-Deutlichkeit wünschen würde – aber wenn man die Koloraturen so singen kann… Ich finde es auch vom Orchester sehr spannend musiziert, lustvoll, aber doch präzise. Sehr schön, sehr farbenreich – so, wie ich mir Mozart wünsche!

Mozart: Mitridate. Lungi da te, mio bene (Sifare)

Cecilia Bartoli (Sopran)
Les Talens Lyrics
Christophe Rousset (Leitung)

1998. Decca

(Nach wenigen Tönen) Das ist die Bartoli, natürlich, das hört man auch sofort. Ich finde den B-Teil etwas zu schnell; das ist eine ganz lange Arie, und alle haben immer Angst, dass es langweilig wird, und man macht es deshalb meistens eine Spur zu schnell, mich eingeschlossen! Der einzige, der das richtige Tempo getroffen hat, ist Harnoncourt in der Aufnahme mit Anne Murray, die ist unübertroffen! Aber zurück zu dieser Aufnahme: Auch das ist eine meiner Lieblings-Arien von Mozart, aber nicht meine Lieblingsstimme, ganz ehrlich gesagt. Man traut sich ja nicht, über diese ganz großen Namen etwas Kritisches zu sagen… aber ich habe manchmal das Gefühl, sie hält von der Stimme etwas zurück; die Stimme ist mir zu weit hinten geführt, sehr kontrolliert, sehr diszipliniert. Man hört genau, wie sie die Steigerungen aufbaut, sich alles genau einteilt, der Atem ist phänomenal – da könnte man Schulmaterial für den Unterricht draus machen. Natürlich habe ich großen Respekt vor ihrer Ausnahme-Karriere, dass sie jetzt schon so lange ganz an der Spitze ist, und sicher hat sie ihren Weg gefunden, dieses sehr lange Stück perfekt zu bewältigen – das geht ja technisch schon an die Grenze des Machbaren. Aber das berührt mich nicht so, das würde ich anders machen!

Johannes Brahms: Ein deutsches Requiem. Ihr habt nun Traurigkeit

Edith Mathis (Sopran)

Chor und Sinfonieorchester des BR

Rafael Kubelik (Leitung)

1978. BR/2001. audite

(Wenige Sekunden nach Beginn der Orchestereinleitung) Oh, das ist aber doch sehr langsam… (Während einer langen Phrase der Solistin) Das wird sie nicht in einem Atem durchsingen können… Ja, da hätte ich auch atmen müssen. Wirklich sehr langsam, ich bin es einfach schneller gewohnt. Was dadurch ein bisschen verloren geht, ist, dass die Stimme schwebt, dieser Engelsklang, den man von Edith Mathis kennt, da hätte sie mehr zurückgehen und das mehr vom Lied her gestalten können. Aber wenn es so langsam ist, muss man stabiler aussingen. Das ist einfach das entscheidende an diesem Stück: Wenn der Dirigent nicht das richtige Tempo erwischt, ist man verloren! Es geht um die erste Phrase „Ihr habt nun Traurigkeit“ und darum, ob man die in einem Atem zusammenbringt. Darauf warten viele, das ist fast schon wie ein hohes C beim Tenor. Davon abgesehen merkt man natürlich auch, dass die Aufnahme über 30 Jahre alt ist: Die Textdeklamation war deutlicher damals, da hat man wirklich alles verstanden, auch mit Orchester. Das ist ganz präzise, vielleicht schon etwas überartikuliert. Aber da es eine Live-Aufnahme ist, muss sie das fürs Publikum so machen, der große Raum braucht das. Der Chor ist sehr beeindruckend, in den pianissimi ganz zurückgenommen, geflüstert, das erzeugt natürlich viel Atmosphäre. Manches klingt eben auch schwerer als man das heute machen würde, aber das hat ja auch seine Berechtigung!

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