Startseite » Vermischtes » „Als Bratscher ist man selten alleine“

Lebenswege Nils Mönkemeyer

„Als Bratscher ist man selten alleine“

Nils Mönkemeyer zögerte zunächst, von der Geige zur Bratsche zu wechseln. Seine Entscheidung hat er nie bereut.

vonNinja Anderlohr-Hepp,

Die Erinnerung an meine Kindheit beginnt mit stundenlangem Fahrradfahren. Ich erinnere mich an die Natur und wie schön ich sie fand, an Brombeeren-Essen am Straßenrand, an die Weitläufigkeit. Bis ich vierzehn war, gab es für mich nur eine Straße. Die Nachbarn waren so, wie man sich „typisch deutsch“ in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren vorstellt: Jäger­zaun, Fisch am Freitag, der Rasen ordentlich gemäht, das Auto sauber, und wenn der Bofrostwagen kommt, wird für den Monat eingekauft. Meine Eltern waren das komplette Gegenteil: Wir waren anders, die Vegetarier-Dorfhippies – aber für mich waren wir so normal wie alle anderen. Auf dem Land lebt man in einem Verbund, den man sich nur bedingt selbst aussucht. In der Kindheit arrangiert man sich damit, aber irgendwann möchte man selbst entscheiden, wen man trifft und wer einen beobachten kann. Mich zog es in die Stadt. Ich hatte ein großes Bedürfnis nach Anonymität, wollte nicht wissen, wer in meinem Haus wohnt, wollte keine Fragen nach meinem Ausgehverhalten oder danach, ob ich meinen Müll korrekt trenne.

Anders, aber doch normal
Anders, aber doch normal

Was mich jetzt ausmacht – meine ausgefallenere Art, meine Individualität – hat mir in der Schulzeit Probleme bereitet. Ich hatte immer das Gefühl, einer Schnittmenge entsprechen zu müssen, mich ein- und anpassen zu müssen. Auch meine Lehrer in der Schule haben mich nicht unterstützt und mir das Positive am „Anderssein“ vermittelt. Ich hatte immer das Gefühl: So wie ich bin, bin ich ein Problem. Wobei ich erstaunlicherweise wegen der Lippenspalte nie gehänselt wurde. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass viele andere Kinder gar kein so perfektes Leben geführt haben – das war nur meine Wahrnehmung. Dennoch hatte ich als Kind keine Gleichgesinnten: Ich war einer und die anderen waren viele. Insbesondere in den Teenager-Jahren habe ich das zu spüren bekommen. Wenn man in diesem Alter etwas aus eigenem Antrieb entgegen der allgemeinen Nullbock-Haltung tut, gut darin ist und von Erwachsenen gelobt wird, ist man den Gleich­altrigen suspekt. Mein Instrument war im wahrsten Sinne des Wortes mein Alleinstellungsmerkmal.

Früh übt sich
Früh übt sich

Ich wurde oft gefragt, warum ich von der Geige zur Bratsche gewechselt bin, wo doch die Geige das etabliertere Solo­instrument sei. Ausschlag­gebend war der Tod meiner Lehrerin Maria Grevesmühl. Sie wurde ausgeraubt und erlitt dabei einen Schädelbasisbruch. Von heute auf morgen wurde sie aus ihrem und auch aus meinem Leben gerissen. Dieser Schicksalsschlag hat mein Leben auf den Kopf gestellt. Sie war die Erste, die zu mir gesagt hat: „Nils, du musst Musiker werden!“ Ich hatte bereits vorher parallel Bratsche gespielt, aber ein Wechsel war für mich vordergründig kein Thema. Nach ihrem Tod war mir aber klar: Ich möchte mir gar keinen neuen Geigenlehrer suchen, ich möchte Bratsche spielen. Ihr Tod hat für mich die Entscheidung gefällt. Tief im Innern habe ich es schon vorher gewusst, aber mir fehlte wohl der entscheidende Ruck. Es hat mich lange beschäftigt, warum es ein solches Erlebnis gebraucht hat, meinen Weg in andere Bahnen zu lenken – denn der Preis dafür war viel zu hoch. Ich empfand mich als herzlos: Lehrerin weg, Geige weg, Hochverrat. Doch ab dem Moment, in dem ich die Entscheidung traf, habe ich keine Sekunde mehr zurückgeblickt – und sie auch nicht bereut.

„Erst jetzt habe ich das Gefühl, dass ich weiß, wie ich sein möchte“

Früher hat es mich gestresst und ängstlich gemacht, dass andere meine Arbeit, mein Spiel kritisiert haben: Von „So darf man nicht spielen!“ bis zu überschwänglichem Lob habe ich schon alles gehört. Erst jetzt habe ich das Gefühl, dass ich weiß, wie ich sein möchte. Das Lesen von Rilkes „Briefen an einen jungen Dichter“ hat mich in meinem Findungs­prozess unterstützt. Da geht es zum Beispiel um die Angst, bewertet zu werden, und Rilke sagt, dass du deine Angst befragen musst. Nur so würde sie später zu einer guten Ratgeberin und lähmt dich nicht. Das hat mir viel geholfen. Zu Beginn meiner Karriere war mir nicht klar, dass ich ein Botschafter für mein Instrument sein sollte. Und als man mich dazu stilisiert hat, hätte mir nichts fremder sein können. Ich war da ganz naiv und dachte: Hauptsache, ich kann gut spielen. Bis heute denke ich bei jedem Konzert, dass wahrscheinlich keiner kommt, und freue mich umso mehr, wenn der Saal voll ist! Das lässt sich nicht abstellen.

„Klassik für Alle“ in Bonn
„Klassik für Alle“ in Bonn

Als Bratscher ist man selten alleine. Ich habe sozusagen ein höchst soziales Instrument – ich bin die Person, die musikalische Verbindungen schafft. Deshalb hatte ich auch nie vor, Solist zu werden, sondern sah mich im Orchester. Das Spielen im Bundesjugend­orchester war die schönste Zeit meiner Kindheit und Jugend. Streicher müssen im Kollektiv funktionieren, zwölf Musiker müssen im Einklang sein. In meinem Fall waren das aber immer elf plus Nils! Das Teilen von Musik steht für mich im Vordergrund. Die Kommunikation im Konzert ist genauso wenig fassbar wie die Musik selbst, aber es passiert eine Art Energieaustausch zwischen Publikum und Musikern. Musik ist etwas Universales und spricht Gefühle an, die wir alle haben und die in die tiefsten Schichten unseres Wesens hineingehen. Das Empfinden von Gemeinsamkeit, das Teilen, die Vorfreude, die Spannung, der Erfolg – wo hat man das alles denn so nah beieinander? Das ist für mich Glück – und nur in der Kunst kann ich dieses Gefühl finden!

Als Bratscher ist man nicht allein: Konzert mit Kent Nagano
Als Bratscher ist man nicht allein: Konzert mit Kent Nagano

Seit der Corona-Krise vermisse ich dieses Gefühl sehr. Im ersten Moment dachte ich: Super, das ist ja wie ein Sabbatical, da kann ich mal nach dem Lustprinzip agieren! Doch dann kam ziemlich schnell der Wunsch, dass alles vorbei sein soll. Mein Anreiz zur Arbeit sind meine Konzerte, und wenn diese wegfallen, habe ich auch keinen Grund zu üben. Ich fühlte mich deshalb uninspiriert und unmotiviert und musste mir tatsächlich selbst die Frage stellen: Wo ist denn jetzt die große Musikerberufung?
Ich habe wahnsinnig viel gekocht und gebacken – und irgendwann gingen mir die Rezepte aus! Das hat mich gezwungen, Neues auszuprobieren. Auch konnte ich mich Projekten widmen, für die ich vorher keine Zeit hatte: Unterrichtsvideos, Italienisch lernen … Normalerweise ist mein Leben durchgetaktet. Ich bekomme von der Agentur meine Tages- und Wochenpläne mit allen Informationen: Wann fahre ich wohin, wer holt mich ab, wann sind Proben, wann Ruhezeiten und so weiter. Wenn ich im wahrsten Sinne des Wortes „keinen Plan habe“, kriege ich nichts gebacken, gammele rum, spiele Computerspiele. So fühle ich mich dann für einen Tag rebellisch und am nächsten Tag ist es mir schon zuwider. Es liegt nicht in meiner Natur, planvoll zu sein – für mich ist das eine bewusste Entscheidung.

„Die meisten wissen nicht, wie ambitioniert ich eigentlich bin“

Die Krise betrifft mich mehrfach: als Solist und Veranstalter. 2019 haben mein Partner William Youn und ich die künstlerische Leitung der Inselkonzerte Herren­chiemsee übernommen. An diesem ganz besonderen Ort haben wir uns seinerzeit als Duo zusammengefunden. Und dann habe ich in Bonn auch noch das Festival „Klassik für alle“. Manch einer kann momentan nicht nachvollziehen, warum viele Konzerte abgesagt werden. Doch ich kann nicht für dreißig Leute ein Konzert veranstalten, drei Musiker auf der Bühne bezahlen und am Ende auch noch Gewinn einfahren. Aber Jammern hilft nicht. Diese Krise ermöglicht uns einen Moment des Innehaltens, des Betrachtens, des Zurücktretens, des Atemholens. Damit wir uns hinterfragen und neu aus- und aufrichten können. An diesem Gedanken halte ich mich fest. Auch meine Lehrtätigkeit ist ein Anker für mich – und keineswegs eine Nebenbeschäftigung. Ich bin als Lehrer sehr geduldig, aber auch hartnäckig, fordere viel und kann schlecht damit umgehen, wenn jemand von sich selbst nicht viel fordert. Ich bin nicht so weit gekommen, weil ich bei siebzig Prozent aufgehört habe, sondern kratze immer an meiner eigenen Decke und versuche herauszufinden, ob ich noch weiterkommen kann. Dahingehend habe ich ein gutes Pokerface – die meisten wissen nicht, wie ambitioniert ich eigentlich bin, sondern halten mich für sehr entspannt und mit mir selbst im Reinen.

Insel der Begegnung: Nils Mönkemeyer und William Youn auf Herrenchiemsee
Insel der Begegnung: Nils Mönkemeyer und William Youn auf Herrenchiemsee

Ich höre Musik erst im Innern, und gegen diesen Klang kann ich nicht anspielen, muss ihm folgen, meine innere Stimme muss kontinuierlich reicher werden. Ich mag es zum Beispiel, wenn der Klang fast bricht, und so interessieren mich Interpreten, die Gratwanderungen wagen: Für mich ist das eine Notwendigkeit. Je individueller wir alle unsere Stimmen stärken, umso schöner! Ich glaube, dass Menschen ihr Potenzial unterschiedlich entfalten: Die einen starten früher, die anderen später. Ich gehöre definitiv zur zweiten Gruppe. Ich finde, dass ich auf meinem Instrument nun langsam gut werde. Ich gebe mir noch zehn, fünfzehn Jahre: Danach sind der Kopf und die Durchdringung am stärksten, aber der Körper wird schwächer. Da muss man realistisch sein. Wenn ich merken würde, dass die Körperlichkeit nicht mehr stimmt, wäre ich auf der Bühne absolut gestresst und könnte nicht spielen. Und dann mache ich einen Cut.

„Ich finde, dass ich auf meinem Instrument nun langsam gut werde“
„Ich finde, dass ich auf meinem Instrument nun langsam gut werde“

Die Krise hat mir gezeigt, dass ich in der Lebenslotterie sehr viel Glück hatte. Ich empfinde es als schön, dass ich jetzt mit den Menschen, für die ich spiele, eine ganz positiv geprägte Kommunikation eingehen kann. Das macht mich im Hinblick auf meine eigene Geschichte sehr glücklich. Ich sehe meine Aufgabe deshalb in der Inklusion, darin, die Barrieren zwischen Menschen einzureißen und sie gleichwertig zu behandeln. Ich möchte nicht, dass sich jemand aufgrund seiner Religion, Hautfarbe, sexuellen Gesinnung oder seines Sozialstatus ausgegrenzt fühlt. Jede Entscheidung, jede Stufe auf meiner Lebensleiter hat mich ein Stück weitergebracht. Und ich habe verstanden, dass es in jeder Lebens­situation kleine Lichtpunkte gibt, die man finden kann. Dieses Innehalten sollten wir uns alle bewahren oder trainieren.

Aktuelles Album

Album Cover für Werke von Vivaldi, Paganini & Tartini

Werke von Vivaldi, Paganini & Tartini

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!