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Opern-Kritik: Komische Oper Berlin – La Bohème

Polarisierendes Melodram

(Berlin, 27.1.2019) Barrie Kosky wandelt Puccinis altvertrautes Rührstück zum existenziellen Crash und gibt einen offenherzigen wie interkulturell aussagekräftigen Einblick in die europäische Sittengeschichte.

vonRoland H. Dippel,

Oper war und ist ein Medium für die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen. Das gilt auch für die Einblicke in die „Szenen aus dem Pariser Künstlerleben“. Die neue „La Bohème“ der Komischen Oper Berlin ist eine Koproduktion mit dem Abu Dhabi Festival. H. E. Huda I. Alkhamis-Kanoo, Gründerin der Abu Dhabi Music & Arts Foundation, war zur Premiere anwesend. Barrie Kosky tat sich auch diesmal keinen Zwang an und bietet im zweiten Bild vor dem Café Momus einen offenherzigen wie interkulturell aussagekräftigen Einblick in die europäische Sittengeschichte. Trotzdem gelang die musikalische Seite dieser Premiere weitaus vielschichtiger als die szenische.

Nonnen und Gigolos

Man sah vor dem Café Momus am Pariser Montmatre mehr den Mardi gras einer permissiven Gesellschaft als einen stimmungsvoll bunten Heiligabend. Die meisten Mütter der sich in ihren schwarzen Dominos auf den Spielwarenhändler stürzenden Kinder gehören zum käuflichen Gewerbe, Nonnen zeigen sich wie die Grisetten mit ihren violetten Boas offen für die Reize zahlreich anwesender Bel-Amis. Das kennt man von Barrie Kosky.

Szenenbild aus "La Bohème"
La Bohème/Deutsche Oper Berlin: Nadja Mchantaf (Mimì), Günter Papendell (Marcello) Vera-Lotte Böcker (Musetta) und Ensemble © Iko Freese/drama-berlin.de

Die Kontraste zwischen den Parisbildern in Schwarz-Weiß, den schreiend bunten Kostümen, der leeren Fläche zur Tristesse der Beziehungskonflikte und die ausgekargte Künstlerbleibe, in die man nur durch eine Bodenklappe gelangt, sind in Rufus Didwiszus‘ Bühnenbild beeindruckende Orte. Angezielt waren die Jahre um 1850, die Entstehungszeit des Romans von Henri Murger, der die Quelle für Puccinis Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa bildete. Mit ihren Kostümen schlug sich Victoria Behr allerdings etwas weiter Richtung Belle Époque. Für die Couture erweist sich diese natürlich als die weitaus interessantere Spielwiese.

Splendid isolation

Szenenbild aus "La Bohème"
La Bohème/Deutsche Oper Berlin: Günter Papendell (Marcello), Dániel Foki (Schaunard), Jonathan Tetelman (Rodolfo) und Philipp Meierhöfer (Colline) © Iko Freese/drama-berlin.de

Vergänglichkeit von Liebe, Jugend und Glück: Das sollte in die szenischen Bilder, in denen der Maler Marcello zum Fotografen wird und die archaisch riesige Kameralinse sogar auf die sterbende Mimì und ihren mit der Situation restlos überforderten Liebhaber Rodolfo richtet. Natürlich kommen die Späße der vier Bohemiens mit Koskys bekannter komödiantischer Routine, und natürlich gewährt Kosky der auch vokal mit Bravour aufdrehenden Vera-Lotte Böcker als Musetta alle verfügbaren Register zwischen Hetz‘ und Herz. Da unterscheidet sich die Berliner Neuproduktion keineswegs von vielen anderen „Bohème“-Inszenierungen. Vermieter Benoît, der ausgerechnet am Heiligabend die überfällige Miete eintreiben will, ist gestrichen: Kein aufgesetzter Gag, denn so wird die „splendid isolation“, in der sich die vier Künstlerfreunde so wohlig eingerichtet haben, umso deutlicher.

La Bohème mit Tiefgang

An Details merkt man immer wieder, wie genau Kosky den Roman gelesen hat. Da kommt es zu ergreifenden Momenten. Mimì quält sich, schon beim ersten Auftritt gebrandmarkt von den Husten- und Erschöpfungsattacken einer Schwindsüchtigen, durch die Bodenluke nach oben. Auf leerer Bühne trennen sich Musetta und Marcello mit einem verzweifelt beißenden Kuss, auch Rodolfo und Mimì gehen (anders als im Libretto vorgesehen) trotz Liebesbeteuerungen und Unisono-Tönen auseinander. Umso bewegender sind die letzten Szenen, wenn Mimì aus dem Wohlstand zum Sterben ins Elend zurückkommt. Ganz unspektakulär zeigen Barrie Kosky und Victoria Behr den langsamen Absturz Marcellos in den Alkoholismus, die schleichende Verarmung Rodolfos. Die Nachahmung der Daguerreotypien als Chiffre der Vergänglichkeit wirkt allerdings nicht nostalgisch verklärend, sondern nur kalt.

So zeigt die Berliner „Bohème“ Bilder nicht von ausgelassener, sondern von verzweifelter, erzwungener Lebensgier. Nicht immer können diese Bilder den Eindruck kalkulierter Posen verbergen, dringen in anderen Momenten dann doch in eine tragische Dimension vor.

Musikalisches Purgatorium

Die Theaterleitung hatte eine von den eingeschliffenen Aufführungstraditionen gereinigte und streng am Notentext orientierte „Bohème“ angekündigt. Diesen Feinschliff hört man vom Orchester der Komischen Oper, dem der trockene Eigenklang in der farbigen Akustik des Hauses zugute kommt. Erfreulich ist, dass Jordan de Souza ein deutlich distanziertes Verhältnis zu wohlig ausufernden himmlischen Längen hat. Exponierte Töne werden hier nicht als Bremsen missverstanden, dadurch die ariose Grundstruktur von Puccinis Vokalsätzen umso deutlicher. Selten gehörte Details bereichern den ganzen Abend: Eine geschärfte Kombination von Blech und Streichern da, eine herausgezogene Paukenstelle dort und ein vernehmbar undurchdringliches, fast atonales Tongestrüpp durch die einmal mehr hervorragenden Chorsolisten der Komischen Oper im zweiten Bild. Image des Hauses und genauer Blick auf das Werk befinden sich im perfekten Gleichklang.

Szenenbild aus "La Bohème"
La Bohème/Deutsche Oper Berlin: Günter Papendell (Marcello), Vera-Lotte-Böcker (Musetta) und Nadja Mchantaf (Mimì) © Iko Freese/drama-berlin.de

Packend und unsentimental

Das Sängerensemble vollzieht den bei Puccini überfälligen Abschied von der vokalen Kuschelecke. Die beeindruckende Vera-Lotte Böcker steht da an erster Stelle: Die Aufwertung der Musetta durch die Sopranistin, die den künstlerischen Mittelpunkt der Münchner Produktion von „La juive“ bildete, gerät faszinierend. Günter Papendell ist ein helltimbrierter markanter Marcello, der Legato nicht mit vokalem Vollgas verwechselt. Auf die pompöse Bravourgeste verzichtet auch Philipp Meierhöfer bei der Mantel-Arie. Die auf einen fast liedhaften Kern zurückgenommenen Arien machen aus dem musikalischen Schlemmermenü glaubwürdige Nervennahrung.

Vor allem das Hauptpaar dürfte polarisieren und passt dabei ausgesprochen gut zusammen: Nadja Mchantaf und Jonathan Tetelmen, der erst im zweiten Teil zu strahlend sicheren Spitzentönen findet, haben gewinnend dunkle und nicht immer ausgeglichene Stimmen. Beide verfügen sie über eine stark ausgeprägte Vokaltextur. Deshalb wird das Kennenlernen, später die kometenhaft verglühende Beziehung Rodolfos und Mimìs vom altvertrauten Rührstück zum existenziellen Crash. Insofern haben gerade Nadja Mchantaf und Jonathan Tetelmen etwas außerordentlich Schwieriges erreicht: Das Melodram wird zum scharf gemeißelten, echt bitteren Drama. Zu einem Drama, dessen innere Grausamkeit auch in Abu Dhabi nur allzu deutlich verständlich sein wird.

Komische Oper Berlin
Puccini: La Bohème

Jordan de Souza (Leitung), Barrie Kosky (Regie), Rufus Didwiszus (Bühne), Victoria Behr (Kostüme), David Cavelius (Chöre), Nadja Mchantaf, Vera-Lotte Böcker, Jonathan Tetelmen, Günter Papendell, Dániel Foki, Philipp Meierhöfer, Emil Ławecki, Christoph Späth, Chorsolisten und Kinderchor der Komischen Oper Berlin, Orchester der Komischen Oper Berlin

Barrie Kosky spricht über „La Bohème“ an der Komischen Oper:

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