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Opern-Kritik: Grand Théâtre de Genève – Idomeneo

Magische Assoziationsräume

(Genf, 21.2.2024) Keine Dekonstruktion, keine Drastik: Deutungsdemut herrscht im hochgefahrenen Graben wie auf der Bühne – an diesem Mozartabend, der auf feinsinnige Weise das Staunen lehrt.

vonPeter Krause,

Die Rächerin Elettra, hier mehr Liebende als Furie, wandert auf den Wassern. Ilia verstrickt sich erst schicksalsschwer in der blutroten Takelage eines Segelboots, später, zu ihrer Arie „Zefiretti“, wiegt sie sich zu imaginierten Frühlingswinden in der Installation riesiger Spiralen als ihrer von innen nach außen gestülpten Seelenlandschaft.

Wracks von gescheiterten Schiffen schweben aus dem Bühnenhimmel auf den Boden des Grand Théâtre de Genève. Tänzer umschlingen sich, halb tot halb lebendig, in einem der einst stolzen Schiffe, auf dem König Idomeneo nach den Verheerungen des von ihm gewonnenen Krieges wider Erwarten doch noch an heimische Gestade zurückgekehrt ist.

Szenenbild aus Mozarts „Idomeneo“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus Mozarts „Idomeneo“ am Grand Théâtre de Genève

Naivität statt Allgegenwart des Krieges

Darf die Inszenierung einer großen Mozartoper von Naivität geprägt sein? Nach den gestrengen Maximen des Regietheaters müsste die Antwort ein entrüstetes „Nein“ sein: Zumal in einer Oper, in der die vereinsamten Mitglieder einer Nachkriegsgesellschaft ihre Wunden lecken, in der die Macht des Schicksals mit aller Brutalität zuschlägt, in der die Götter den Menschen keinerlei heilende Wege aus all der Vernichtung weisen, sondern auf ihrer eigenen Macht bestehen und zeigen, dass gerade auch ein Sieg extra hart erkauft wird: Meeresgott Nettuno fordert von Idomeneo für dessen Rettung das größtmögliche Opfer: das Leben seines Sohnes und Nachfolgers Idamante.

Und da soll nun kaum Blut spritzen? Kaum ein Bild an die Gnadenlosigkeit menschlichen Vernichtungswahns gemahnen? So gar keine Andeutung an die Allgegenwart des Krieges auf die Bühne kommen?

Szenenbild aus Mozarts „Idomeneo“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus Mozarts „Idomeneo“ am Grand Théâtre de Genève

Theatralische Magie und Imagination

Die Frage nach einer dezidierten Bühnen-Naivität darf aber auch anders beantwortet werden. Mit einem vorsichtigen, sich dennoch – und gerade dadurch – berührt zeigenden „Ja“. Ja, eine Inszenierung darf exakt so daherkommen, wenn sie uns das kindliche Staunen lehrt durch den Einsatz einer theatralischen Magie und Imagination, die an die Stelle der Dekonstruktion und der Drastik beherzt die Demut setzt.

Ein solches Musiktheater versagt sich dann jeglicher vordergründiger Deutung und politisch korrekter Haltung, es öffnet stattdessen eigene Assoziationsräume für das Publikum, das die Leerstellen für sich füllen kann – oder aber sich wohlig zurücklehnen kann ob all der Fülle des szenischen und musikalischen Wohllauts, wie es einstmals zu den Zeiten der „alten Oper“ war, als sängerische Spitzenbesetzungen wichtiger waren als die interpretatorische Inszenierungswucht.

Szenenbild aus Mozarts „Idomeneo“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus Mozarts „Idomeneo“ am Grand Théâtre de Genève

Sidi Larbi Cherkaoui, der Tanzchef als Regisseur

Man kann also trefflich streiten über die Inszenierung von Sidi Larbi Cherkaoui, der als Tanzchef des Grand Théâtre de Genève nach ersten, anderswo erprobten Ausflügen in die Oper sich nun Mozarts relativ früher, noch die barocken Modelle der Gattung feiernder opera seria zuwandte. Er zeichnet für Regie und Choreographie verantwortlich. Letzteres sieht man mit Freuden, wenn der Belgier seine Tänzer den Opernfiguren gleichsam als Attribute zuordnet (man denkt dabei an den Trick des Barocktheaters, einer Bühnenfigur ein obligates Instrument an die Seite zu stellen, das deren Charakter musikalisch ausmalt) und sie die Affekte der Sänger sichtbar machen, somit Seelenregungen vertanzen und verständlich machen.

Eigene Szenen des Tanzensembles bringen die Unerbittlichkeit des Meeres, die Gewalten der Natur trefflich zum Ausdruck. Doch auch die Funktion des Regisseurs Sidi Larbi Cherkaoui ist offensichtlich, hier freilich eher durch seine Zurückhaltung in diesem Metier, die den Sängern nur wenig hilft, ihren Figuren Profil zu verleihen.

Szenenbild aus Mozarts „Idomeneo“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus Mozarts „Idomeneo“ am Grand Théâtre de Genève

Die Sängerinnen und Sänger wirken an diesem Abend unterschiedlich motiviert, sich als Darsteller einzubringen. Außergewöhnlich plastisch legt Lea Desandre den Idamante als Hosenrolle an. Nicht nur verströmt ihr lyrischer Mezzosopran den Zauber der Klarheit eines Gebirgswasserstroms, was ihren Gesang so wunderbar glaubwürdig macht. Die behutsam eingesetzte stilisierte barocke Gestensprache der jungen Sängerin verträgt sich ideal mit den Bildern der Inszenierung, für die sich Sidi Larbi Cherkaoui der Mitarbeit zweier prominenter japanischer Künstlerinnen versichert hat.

Chiharu Shiota hat die im reinen Wortsinn fantastischen Bühneninstallationen ersonnen, Yuima Nakazato die nicht minder fantasievollen Kostüme, die zwischen Archaik und Haute Couture eine durchweg anregende Melange bilden, die sich Mozarts opera seria feinsinnig anschmiegt.

Wohltemperierter Mozartklang

Die sängerdarstellerische Intensität von Lea Desandre wird von der soprandramatischen Federica Lombardi als Elettra ebenso erreicht wie von der mädchenhaft liebreizend zwitschernden Giulia Semenzato als Ilia. Als relativ kurzfristiger Einspringer in der strapaziösen Titelpartie bewährt sich der schweizerische Tenor Bernard Richter im besonderen durch die modulationsreiche Farbpalette seiner in allen Lagen gut ansprechenden Stimme, nur seinen Koloraturen hört man die Anstrengung an, die sie anderen Rollenvertretern regelmäßig auch abverlangen.

Szenenbild aus Mozarts „Idomeneo“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus Mozarts „Idomeneo“ am Grand Théâtre de Genève

Omar Mancini als Arbace ist die Entdeckung eines italienisch belkantesken, höhenaffinen Tenors. Die durch das Orchestre de Chambre de Genève erweiterte Cappella Mediterranea – in Genf im Barockrepertoire schon oft bewährt – steuert unter Leonardo García Alarcón einen dezidiert auf Christoph Willibald Gluck und dessen edle Schlichtheit zurückgehenden Mozartklang bei: stets wohltemperiert, emotionale Extreme meidend, lukullisch im satten Streicherapparat, insgesamt etwas edel-poliert.

Dieses klangliche Mozart-Bild passt indes fast perfekt zum szenischen Zugriff und dessen metaphernreicher Poesie. Deutungsdemut herrscht somit im hochgefahrenen Graben wie auf der Bühne – an diesem Mozartabend, der auf feinsinnige Weise das Staunen lehrt.

Grand Théâtre de Genève
Mozart: Idomeneo

Leonardo García Alarcón (Leitung), Sidi Larbi Cherkaoui (Regie & Choreographie), Chiharu Shiota (Bühne), Yuima Nakazato (Kostüme), Michael Bauer (Licht), Cristina Nyffeler (Mitarbeit Bühne), Mark Biggins (Chor), Bernard Richter, Lea Desandre, Federica Lombardi, Giulia Semenzato, Omar Mancini, Luca Bernard, William Meinert, Chor des Grand Théâtre de Genève, Cappella Mediterranea und Orchestre de Chambre de Genève

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