Opern-Kritik: Bayerische Staatsoper München – Die Gezeichneten

Dionysischer Orchesterzauber

(München, 12.5.2018) Maestro Markus Stenz legt die freudianischen Tiefenschichten des erotikprallen Meisterwerks von Franz Schreker frei

© Wilfried Hösl

Die Gezeichneten/Bayerische Staatsoper

„Die Gezeichneten“ ist das schamlose Stück eines Erotomanen. Franz Schreker treibt nicht nur Richard Wagner, Giacomo Puccini und Richard Strauss in höchst persönlicher Manier auf die Spitze, er mischt dazu Motive von Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Thomas Mann zu einem dionysisch entgrenzten wie entmoralisierten Musiktheater des Rausches ab.

„Die Gezeichneten“: im Paradies der Prostitution

Zwar sucht Alviano, den John Daszak perfekt pendelnd zwischen Charakter- und Heldentenor stimmlich als Wiedergänger eines Peter Grimes zeichnet, hier als dezidiertes Alter Ego des Komponisten nach Sublimierung seines Triebs. Die von ihm geschaffene geheime Liebeshölle namens Elysium, die selbst Tannhäusers Venusberg noch prall potenziert, frequentiert er selbst nicht, widersteht all den Verlockungen, will die Paradis artificiels allerdings seiner Stadt vermachen, den verbotenen Ort in einen öffentlichen transformieren. Das erweist sich als durchaus schlechte Idee. Denn mögen die Spießer den Sündenpfuhl zwar inkognito allesamt aufsuchen, Paradiese der Prostitution gedeihen freilich erst dank ihrer absoluten Diskretion.

Calixto Bieito in Berlin: Männer als pädophile Monster

Doch wie zeigt man das Verbotene auf der Bühne? Mit extra viel nacktem Fleisch? Oder doch lieber jugendstilig verblümt im andeutend verschleiernden Geiste des Symbolismus? Exakt einhundert Jahre nach der legendären Frankfurter Uraufführung sind derzeit zwei Sichtweisen im Vergleich zu bewundern. Calixto Bieito setzt an der Komischen Oper Berlin auf Konkretisierung, entdeckt in Männern nie richtig erwachsen werdende pädophile Monster, die sich nicht nur an den im Libretto vorkommenden Mädchen vergehen, sondern auch an Knaben. Perversion zeigt der katalanische Regisseur, der es immer wieder deftig liebt, durchweg ohne jede Peinlichkeit.

© Iko Freese/drama-berlin.de

Szenenbild aus "Die Gezeichneten"

Die Gezeichneten/Komische Oper Berlin

Doch er treibt dem Werk mit seiner Regie-Deutlichkeit, die den Figuren freilich seltsamerweise dennoch keine klare Konturen zuweist, auch das Schillernde, Fragile, Poröse aus. Die Musik scheint immer noch viel mehr zu wissen, sich in tiefere freudianische Abgründe zu wagen, als auf der Bühne sichtbar wird.

Krzysztof Warlikowski in München: die Tragödie des hässlichen Mannes

Krzysztof Warlikowski geht da in München geschickter, weil vielschichtiger und uneindeutiger vor. Er bezieht den Stummfilm der Entstehungszeit der Oper ebenso ein wie nachgespielte performative Installationen der Künstlerin Marina Abramoviċ oder Bilder aus den Filmen von David Lynch. So mutiert Alviano zu einem gleichermaßen Ekel wie Mitleid erregenden Mischwesen aus Phantom der Oper und Frankenstein. Er erzählt die Tragödie des hässlichen Mannes, der will, wie alle wollen, sich aber schämt und es folglich nicht tut.

Das Morbide und Moribunde, das Eros und Thanatos tristanesk verschränkende Element, das Gebieten männlicher Macht über weibliche Schönheit, die Dialektik von Sublimierung und Rausch kommen in München mit einer Sinn und Geist anregenden Mehrdeutigkeit zum Ausdruck.

Markus Stenz zeigt, wie berauschend und berührend zugleich Schrekers Musik klingen kann

© Kaupo Kikkas

Markus Stenz

Markus Stenz

Während in Berlin Stefan Soltesz am Pult durch Strukturklarheit für Durchsicht im Dschungel sexueller Verstrickungen sorgt und das Dionysische geschickt bändigt, zeigt Markus Stenz in München mit dem fantastisch disponierten Bayerischen Staatsorchester, was diese wilde, ungezähmte, zügellose Musik wirklich ausmacht. Denn ein Asket war dieser Schreker mitnichten.

Markus Stenz wählt prinzipiell druckvolle Tempi, entfacht indes maximale Sogwirkungen, weil er die Kunst des Termpo rubato auf das Feinste austariert. Übergänge kostet er in genüsslicher, glutvoller Geschmeidigkeit aus, Höhepunkte steuert er traumwandlerisch an, den Orchesterzauber, der Schreker zu einem musikalischen Bruder Thomas Manns macht, entfaltet Stenz so lukullisch und expressionsprall, dass wir endlich einmal kapieren, dass ein Richard Strauss eben keineswegs einsam den Opernmarkt seiner Zeit beherrschte, sondern in Franz Schreker einen mindestens gleichwertigen komponierenden Konkurrenten hatte.

Seine dirigentische Größe demonstriert Stenz zudem darin, dass er das musikalische Ausrasten und Ausrasen nie absolut setzt, also auch in keinem Moment die Sänger überdeckt, sondern die musikalischen Kräfte sehr wohl ganz behutsam auslotet. Zumal die wunderbar stimmig ins dramatische Fach hineingewachsenen Catherine Naglestad als Carlotta trägt er gleichsam auf Händen. Sein vokales Mitatmen ermöglicht eben auch unerhört subtile, nahezu utopische Augenblicke, und Naglestad verströmt eine isoldische Innigkeit, die diesen Ausnahmeabend eben am Ende nicht nur berauschend, sondern auch so enorm berührend macht.

Bayerische Staatsoper München
Schreker: „Die Gezeichneten“

Markus Stenz (Leitung), Krzysztof Warlikowski (Regie), Małgorzata Szczęśniak (Bühne & Kostüme), Claude Bardouil (Choreographie), Denis Guéguin (Video), Sören Eckhoff (Chor), Tomasz Konieczny, Christopher Maltman, Alastair Miles, Catherine Naglestad, John Daszak, Chor, Opernballett der Bayerischen Staatsoper, Bayerisches Staatsorchester

Sehen Sie den Trailer zu „Die Gezeichneten“ aus der Komischen Oper Berlin:

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Weitere Termine: 19.5.2018 (München) & 11.7.2018 (Berlin)

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