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Opern-Kritik: Macerata Opera Festival – NORMA

Absolute vokale Wahrhaftigkeit

(Macerata, 7. August 2016) Maria José Siri löst sich als Bellinis Druidenpriesterin vom langen Schatten der Maria Callas

vonPeter Krause,

Keine andere Opernrolle ist so eng mit einer einzigen Sängerin verbunden wie die von Vincenzo Bellinis Norma: In unserem Hörgedächtnis tief verankert ist die Stimme der Maria Callas. Tragisch erfühlt und erfüllt zugleich klingt ihr düster gefärbtes “Casta Diva” – die Primadonna assoluta schrieb der Norma ihr eigenes Leiden und Lieben, ihr Sehnen nach Zweisamkeit ein. Kann es danach eine unvoreingenommene Anverwandlung einer Sängerin geben, die sich der Norma annimmt? Erdrückend wirkt die Übermacht durch die Übermutter aller Soprane. Ging die Callas ihre Norma mit dem umfassenden gesangsfachübergreifenden Wissen einer Tosca, einer Aida, ja gar einer Isolde an, gilt heute das Gebot der Spezialisierung. Mit Edita Gruberova und Cecilia Bartoli haben sich zuletzt ausgewiesene Sopranistinnen des Belcanto die Partie erobert. Die Agilität des Ziergesangs, fein ausgesponnene Fiorituren, ja all die Rezepte des reinen schönen Singens waren nun wieder wichtiger als die allein gültige Devise der Callas, die in ihrer Kunst vor allem anderen eines transportierte: unbedingte Wahrhaftigkeit, wenn nicht gar Wahrheit.

 

Die gefragteste Aida unserer Zeit wagt sich ins Belcanto-Fach

 

Beim Macerata Opera Festival wagte sich nun erstmals Maria José Siri an die Norma. Es ist die erste Belcanto-Partie der aus Uruguay stammenden Sopranistin mit italienischen Wurzeln, die den Stiefelstaat seit einigen Jahren zu ihrer Wahlheimat gemacht hat. Das Interessante an dieser Besetzung ist: Mit der Siri singt einer der gefragtesten Verdi-Soprane unserer Zeit die Norma. Ihre Aida, die sie an allen großen Häusern singt, gilt derzeit fast als konkurrenzlos. Die Siri ist wie einst die Callas eine wichtige Tosca-Interpretin. Kann sie sich vom langen Schatten der signifikantesten Sängerin aller Zeiten lösen?

 

Maria José Siris Druidenpriesterin vermittelt mit majestätischem Primadonnenton weibliche Weisheit und Magie

 

Mit der überragenden Rollenvorgängerin gemein hat die Siri zunächst ihre Erfahrungen im Verismo. Sie spürt jeder Nuance der Worte mit ausgeprägtem Bewusstsein für Zwischentöne und Farben nach, ihr Konzept des Schöngesangs folgt ganz dem Desiderat der Wahrheit des Ausdrucks. Ihr Primadonnenton ist ausladend, majestätisch und vibratosatt, er wird begleitet von einer hoch konzentrierten Mimik, einer auch dezidiert körperlichen Durchdringung der Figur. Die Norma der Siri strahlt eine die Arena Sferisterio fürwahr füllende Dignität und Autorität aus. Ihre Druidenpriesterin vermittelt weibliche Weisheit und Magie. Mit diesem Ansatz knüpft Maria José Siri somit durchaus an die großen alten Zeiten echter sängerischer Persönlichkeiten an, die heute so selten geworden sind.

 

“Casta Diva” – absolutes Pianissimo, sanfte Schwelltöne, weibliche Wärme

 

Diese im besten Sinne altmodische, weil der Tradition bewusste Herangehensweise an die komplexe Figur verbindet die Siri freilich mit sehr viel eigener Persönlichkeit. “Casta Diva”, das Signet der Norma, geht sie mit maximalem Wagemut an – im absoluten Pianissimo, das uns viel von der Verletzlichkeit dieser tragisch Liebenden erzählt. Sanfte Schwelltöne sorgen für Differenzierung des emotionalen Ausdrucks, überhaupt ist die dynamische Skala breit gefächert. Siris Timbre ist edel, ihr Piano cremig, das Forte hat aufregende weibliche Wärme. Allenfalls ein paar schnelle Koloraturen sind nicht perfekt ausgeführt – im Sinne der absoluten Durchdringung der Figur ist gerade diese Risikobereitschaft, scheinbar bloße Verzierungen emotional aufzuladen, indes kein Makel, sondern ein Markenzeichen.

 

Harmonie des Kontrasts

 

Es spricht für die Klugheit des Künstlerischen Leiters des Festivals, Francesco Micheli, dass die weitere Besetzung im Sinne einer kontrastierende Harmonie exzellent funktioniert. Die Seconda Donna, Normas Konkurrentin um die Gunst des römischen Besatzers der Gallier, ist mit der Adalgisa der Sonia Ganassi besetzt: der herbere, sachlichere Ton der Italienerin ist perfekter Gegenpol zur Siri. Rubens Pelizzari gibt den untreuen Pollione mit viel tenoralem Belcanto-Schmelz jungmännnisch hellstimmig und gleichwohl heldisch. Im Belcanto ist es eben gar kein Widerspruch, dass auch ein Arschloch vom Komponisten mit wunderschönen Kantilenen ausgestattet ist. Eine Klasse für sich ist mal wieder Nicola Ulivieri als basswuchtige Vaterfigur Orovesco.

 

Ausgefeilte Personenregie fehlt

 

Die Inszenierung des Teams von Luigi Di Gangi und Ugo Giacomazzi und ihrer Ausstatter Federica Parolini und Daniela Cernigliaro wagt keine Experimente, fragt nicht nach Kontexten, denkt nicht über Aktualisierungen nach. Sie dient dem Belcanto. Im Vergleich zu den deutlich ambitionierteren diesjährigen Festival-Produktionen von Otello und Trovatore fehlt dieser Norma die Intensität der Personenregie. Ein wirklicher Mangel ist selbst dies allerdings nicht. Dazu sind die Sänger einfach zu gut, die Maestro Michele Gamba und das Orchestra Regionale delle Marche füllig begleiten. Der Coro Lirico Marchigiano “Vincenco Bellini” macht seinem Namen alle Ehre und beweist einmal mehr seinen hohen Rang.

 

Macerata Opera Festival

Bellini: Norma

 

Mitwirkende: Michele Gamba (Leitung), Luigi Di Gangi & Ugo Giacomazzi (Regie), Federica Parolini (Bühne), Daniela Cernigliaro (Kostüme), Maria José Siri, Rubens Pelizzari, Sonia Ganassi, Nicola Ulivieri, Fondazione Orchestra Regionale delle Marche, Coro Lirico Marchigiano “Vincenco Bellini”

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