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Interview Hilary Hahn

„Ach, das ist so ein Narrativ“

Hilary Hahn über die Frage nach der Perfektion, ihr Festival „Hilary Hahn & Friends“ und über Kulturfinanzierung in Deutschland und den USA.

vonJakob Buhre,

Anfang November kommen Fans von Hilary Hahn in Dortmund voll auf ihre Kosten. Für das Konzerthaus hat die US-Amerikanerin ein abwechslungsreiches Festival kuratiert, ist mit Sinfonie-Orchester, Orgelbegleitung oder Kammermusikern zu erleben, gibt eine Masterclass – und lockt zwischendurch die allerjüngsten Stadtbewohner auf die Bühne.

Beim Festival „Hilary Hahn & Friends“ kann man Sie eine Woche lang in Dortmund erleben. Ist so eine Residenz eine wohltuende Abwechslung vom ständigen Reisen?

Hilary Hahn: Mit dem vielen Reisen habe ich kein Problem. Was aber das Tolle an dieser Residenz ist: Dadurch, dass die Konzerte am Stück stattfinden und nicht über eine Spielzeit verteilt sind, bin ich nicht wie sonst die Solistin, die nur kurz einfliegt und dann wieder weg ist. Sondern ich habe die Gelegenheit über einen längeren Zeitraum die Stadt und die Konzertgemeinde kennen zu lernen.

Wie kam es zum Konzept dieses Festivals?

Hahn: Das Konzerthaus Dortmund ist mit der Idee an mich herangetreten und mich hat das sehr gereizt. Denn sie haben mir eine Carte blanche gegeben, was ich als sehr großes Privileg empfinde. Ich konnte bei der Programmierung frei entscheiden und mir überlegen: Welche Musiker lade ich ein, wie kann ich etwas beitragen zum Dialog zwischen der Bevölkerung in Dortmund und dem Konzerthaus? Das Festival bietet mir auch die Möglichkeit, Lücken zu füllen in meinem bisherigen Schaffen.

Sie werden beispielsweise in Kombination mit Orgel zu hören sein…

Hahn: Zum allerersten Mal! Ich liebe die Orgel, viele Violinwerke wurden von ihr beeinflusst, insbesondere bei Bach, weshalb ich mir häufig Orgelaufnahmen von Bach-Stücken anhöre, um dann bestimmte Aspekte in meine Interpretation einfließen zu lassen. Gleichzeitig ist meine Duo-Premiere mit der Organistin Iveta Apkalna spezifisch für Dortmund, weil das Konzerthaus über ein wunderbares Instrument ­verfügt.

Den Cellisten Seth Parker Woods haben Sie für gleich zwei Konzerte eingeladen. Er ist in den USA für seine interdisziplinären Arbeiten bekannt.

Hahn: Ja, er lässt Spoken Word einfließen, Performance Art, ­Video-Installationen und Elektronik. Sein Zugang zur Musik ist extrem kraftvoll und inspirierend. Daher habe ich ihm bei der Programmgestaltung auch völlig freie Hand gelassen. Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass es für Musik nicht die eine Art und Weise der Aufführung gibt. Wenn jemand ein neues, tolles Konzept hat, wie er Kunst darbietet, finde ich es wichtig, dies gewohnten Formaten gegenüber zu stellen.

Sie begannen Ihre Solisten-Karriere in den neunziger Jahren. Inwiefern ist das klassische Konzertleben seitdem liberaler geworden?

Hahn: Das hängt sehr davon ab, wo man gerade ist. Sicherlich hat zeitgenössische Musik jetzt an vielen Häusern einen höheren Stellenwert, wenngleich sie immer noch selten im Zentrum des Konzertprogramms steht. Viele Musiker betrachten die Beschäftigung mit Neuer Musik nicht mehr als eine Art Verpflichtung, sondern es ist für sie ganz selbstverständlich, mit lebenden Komponisten zu arbeiten. Und ich würde sagen, dass das Spektrum von Neuer Musik auf dem Spielplan gewachsen ist. Es gibt eine größere Akzeptanz für unterschiedliche Arten von Tonalität und Stilistik – so erlebe ich es  zumindest in den USA.

Hilary Hahn: „Das Spektrum von Neuer Musik ist gewachsen“
Hilary Hahn: „Das Spektrum von Neuer Musik ist gewachsen“

Gibt es Momente, in denen Sie sich wünschen, dass Kultur in den USA staatlich finanziert würde wie in Deutschland – und nicht privat?

Hahn: Ob das eine System langfristig besser ist als das andere, weiß ich nicht. Ich bin mit vielen Veranstaltern befreundet und von denen höre ich oft, dass es in den USA finanziell sicherer ist, weil man unabhängig ist von Regierungswechseln. Wenn in Deutschland ein Kulturminister wechselt, kann es sein, dass Budgets neu vergeben werden und ein Klangkörper auf einmal leer ausgeht. Wenn die Musiker dann keinerlei Erfahrung mit privatem Sponsoring haben, haben sie es schwer.

Welche Vorteile staatlicher Finanzierung sehen Sie?

Hahn: Zum Beispiel, dass bestimmte Institutionen in Deutschland über ein gutes Budget verfügen, um Neue Musik zu beauftragen. In den USA kann es schon mal vorkommen, dass ein Sponsor ein bestimmtes Projekt ablehnt – aber dann fragst du eben einen anderen Sponsor. Außerdem gibt es für Kultursponsoring Steuervorteile, es macht also auch finanziell Sinn, Kultur zu unterstützen. Klar ist es manchmal frustrierend zu sehen, dass deine Regierung Künstler nicht fördert. Doch stattdessen gibt es eine Vielzahl von Bürgern, die sich persönlich der Kultur verpflichtet fühlen.

Der Komponist John Adams erwähnte einmal in einem Interview, wie selten Politiker in den USA klassische Konzerte besuchen würden.

Hahn: Das stimmt. Wenn ich welche sehe, sind es meistens ausländische Diplomaten. Zu einem Konzert von mir kam aber auch die frühere US-Außenministerin Condoleezza Rice …

… die selbst Klavier spielt.

Hahn: Wenn man beim Klassik-Konzert Politiker trifft, sind es oft diejenigen, die selbst Musik machen oder persönlich interessiert sind. In Europa kommen Politiker häufiger, vor allem zu Festivals, wo sie dann aber oft auch die Stadt oder ein Ministerium vertreten.

In Dortmund könnten Sie zukünftige Politikerinnen oder Politiker im Publikum haben, denn Sie geben ein „Baby-Konzert“ für Eltern mit Kindern unter einem Jahr …

Hahn: … und ich liebe dieses Format wirklich! Es füllt eine Leerstelle im Klassikbetrieb, denn normalerweise ist für Eltern von Kleinkindern ein Konzert­besuch kaum realisierbar. Und genau für sie ist es gedacht: Sie können sich die ganze Zeit wie zu Hause verhalten, die Kinder können auf dem Boden herumkrabbeln, oder auf die Bühne kommen, um das Instrument aus der Nähe zu sehen. Manche stellen sich so ein Konzert chaotisch vor, aber das ist es nicht. Im Gegenteil, es ist gemütlich, harmonisch, und du guckst bei den Eltern oft in sehr glücklich Gesichter.

Zum Schluss noch eine andere Frage: Vor einigen Jahren wurden Sie in concerti als „Perfektionistin“ bezeichnet. Sehen Sie das als Kompliment?

Hahn: Ach, das ist so ein Narrativ.

Sie würden nicht von sich selbst behaupten, Perfektionistin zu sein?

Hahn: Nein. Ich versuche, die engste, direkteste Verbindung zum Publikum einzugehen und so tief wie möglich in das musikalische Material einzudringen. Natürlich habe ich dabei hohe Standards, ich will, dass eine Aufführung so gut wie möglich ist und es keinerlei unnötige Ablenkung gibt. Aber auch wenn ich sehr viel und hart arbeite, bin ich definitiv keine Perfektionistin.

Wie ist das, wenn Sie ins Studio gehen und zum Beispiel die extrem anspruchsvollen Ysaÿe-Sonaten aufnehmen?

Hahn: Wenn ich im Studio mit etwas unzufrieden bin, wiederhole ich immer den kompletten Satz, ich würde nicht eine einzelne Passage neu aufnehmen und in ein anderes Take einfügen. Mir geht es um Musikalität – und nicht darum, jeglichen Makel zu beseitigen. Im Gegenteil, ich denke, dass menschliche Fehler dazugehören. Im Studium hat man uns beigebracht, so perfekt und akkurat wie möglich zu sein. Aber wenn man das zu ernst nimmt, klingt dein Spiel vielleicht irgendwann wie eine KI …

… wie eine Maschine.

Hahn: Stellen Sie sich eine Person vor, die so spricht wie ein Hörbuch, immer in perfekten Sätzen und Formulierungen. Und dann eine Person, die Ihnen mit Leidenschaft in der Stimme ihre Vision erzählt, dabei auch mal zögert oder sich verspricht – das ist menschlich. Und dein Publikum erkennt das, versteht es und kann sich damit identifizieren. Mir ist es sehr wichtig, beim Spiel der inneren Stimme und den eigenen Emotionen zu folgen, anstatt permanent darüber in Sorge zu sein, dass alles perfekt ist.

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