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Zum 70. Geburtstag von Wolfgang Rihm

Eine Klasse für sich

Am 13. März wird Komponist Wolfgang Rihm 70 Jahre alt.

vonEcki Ramón Weber,

„Neoromantik!“ Das war das unbeholfene Etikett für seine Musik, als Wolfgang Rihm in den siebziger Jahren die Szene betrat. In der Rückschau eine unpassende, viel zu enge Nische. Da kam ein junger Komponist und pfiff auf die seriellen Techniken und Theorien der Nachkriegsavantgarde. Auch Aleatorik, Experimente mit grafischer Notation, Improvisation, Elektronik oder Fluxus waren ihm egal. Stattdessen brachte er voller Selbstvertrauen wieder Ausdruck und sogar Gefühl in die Musik. Dass unmittelbare Vorgänger, etwa Hans Werner Henze oder Aribert Reimann, dafür belächelt wurden von den Zampanos der Neuen Musik wie Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen, kümmerte Rihm nicht. Seine Werke waren ausgeklügelt genug strukturiert, um Kritik standzuhalten. Und überhaupt: Was für frappierende Klänge brachte er hervor, was für Instrumentenfarben, was für dichte Spannungszustände! Heute sind jene Diskussionen um Gefühl und Expressivität obsolet. Auch die Frage nach Tonalität. Je nach Versuchsanordnung des Komponierens ist dies alles möglich. Es geht stattdessen um Struktur, Textur, Klangfarbe, um den Umgang mit den Instrumenten, mit den Vokalstimmen, mit dem Raum. All das hat Rihm als maßgeblicher Akteur weitergeführt. Er ist damit ein Wegbereiter heutigen Komponierens, auch wegen seiner Auseinandersetzungen mit Grundfragen der Musik in seinen Orchester-, Solo- und Kammerwerken, mit Klangfläche und Melodielinie. Eine ganze Werkreihe von ihm trägt den Titel „Über die Linie“. Auch sein neuartiger Zugang zu Virtuosität, etwa in seinem Orchesterwerk „Jagden und Formen“ (2001/2008), machte Schule: Bei Rihm ist Virtuosität kein Zirkus-Effekt, sondern Aggregatzustand von Musik. Längst hat dieses Stück auch Karriere als Ballettmusik gemacht, kreiert von Sasha Waltz.

Nicht zu vergessen auch Rihms neue Lösungswege in der Vokalmusik, das gleichberechtigte Aushandeln von Vokalem und Instrumentalem in „Et Lux“ (2009) oder jüngst sein markantes „Stabat mater (2020), das keinen Chor braucht, sondern mit Bariton und Bratsche auskommt. Überhaupt, die Musik für die menschliche Stimme: Rihm, umfassend belesen in Lyrik, Prosa, Dramatik, Philosophie, wurde auch zu einem der bedeutendsten Liedkomponisten der letzten fünfzig Jahre. Von Berühmtheiten wie Friedrich Hölderlin und Rainer Maria Rilke bis zu heute noch immer übersehenen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts wie Christine Lavant hat er Gedichte für Lieder herangezogen. Bereits die frühe Oper „Jakob Lenz“, 1979 in Hamburg uraufgeführt, konnte sich bis heute im Repertoire halten, ein packendes auskomponiertes Psychogramm. Auch die hochgespannten, intensiv gleißenden Klänge von „Oedipus“, 1987 an der Deutschen Oper Berlin präsentiert, sind zu erwähnen. Und schließlich 1992 in Hamburg „Die Eroberung von Mexico“ mit der Figur Montezuma als Frauenpartie, ein Kunstgriff, der es lange vor den heutigen Diskursen erlaubte, Themen wie Kolonialismus, Patriarchat und Genderfragen intersektional zu untersuchen.

Wolfgang Rihm: „Ich lebe relativ ruhig mit meiner ganzen Unruhe.“

Weit über 400 Kompositionen umfasst bis heute die Werkliste von Wolfgang Rihm. Bereits als Elfjähriger hat er komponiert. Mit vierzehn Jahren, 1966, schrieb er sein erstes Streichquartett. Bis heute hat er dreizehn Werke allein dieser Gattung vorgelegt. Angst vor durch die Tradition mit Bedeutung aufgeladenen Gattungen, um die andere einen weiten Bogen machen, hat er offensichtlich nicht. Auf seine ungeheure Produktivität angesprochen, entgegnete Rihm einmal: „Ich mache vielleicht sonst nichts anderes. Ich dirigiere nicht, ich lebe relativ ruhig mit meiner ganzen Unruhe. Und schaffe. Gut, ich unterrichte auch.“ Ein Understatement von jemandem, dessen Schüler selbst schon große Namen in der heutigen Musikszene sind. Jörg Widmann gehört dazu, Rebecca Saunders, Márton Illés und Vykintas Baltakas. Als „Neoromantiker“ bezeichnet Wolfgang Rihm schon längst keiner mehr. Er ist eine Klasse für sich.

concerti-Tipp:

Wolfgang Rihm – Über die Linien (Dokumentation)
13.3.2022, 23:45 Uhr
ARD alpha

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