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Porträt Yulianna Avdeeva

„Da sind Gefühle im Spiel“

Für Pianistin Yulianna Avdeeva sind Instrumente wie Elefanten: Sie haben ein langes Gedächtnis.

vonPatrick Erb,

Wenn man Yulianna Avdeeva nach ihren frühesten Erinnerungen an klassische Musik fragt, kommt ihr Winnie Pooh in den Sinn, genauer gesagt der sowjetische Bruder des knuffigen Bären. Die Musik für die dreiteilige russische Serie „Winni Puch“, wie er dort heißt, stammt von Mieczysław Weinberg. Die Begeisterung für diese Musik war also schon früh da – eine gute Voraussetzung, um das Klavier zu erkunden. Dank ihrer musikaffinen Eltern und einem Instrument im Haus konnte sich Yulianna Avdeeva in frühesten Kindheitstagen am Instrument erproben. Das geschah ganz zwanglos, denn Druck von den Eltern gab es dabei nicht. Ausgestattet mit einer gehörigen Portion Spielfreude und dem Gutachten einer Musiklehrerin ging die Fünfjährige an die Moskauer Spezialmusikschule Gnessin.

Avdeeva schätzt Unvoreingenommenheit sehr. Natürlich seien Konzerthäuser wie Elbphilharmonie, Carnegie Hall oder Palau de la Música die Tempel, in denen Musik zelebriert wird. Aber vor einem Publikum zu spielen, das keinen selbstverständlichen Zugang zu ihrer Musik hat, sei etwas Besonderes. So berichtet Avdeeva vom Tippet Rise Art Center in Montana, einem zwölftausend Hektar umfassenden Kunstforum. „Es ist zutiefst berührend, wenn Menschen begeistert nach dem Konzert zu einem kommen und gestehen, dass das ihr erstes Konzert gewesen ist“.

Musik ermögliche Zugang ins Innerste des Menschen

Für Yulianna Avdeeva ist die Musik nicht nur ein Medium der Unterhaltung oder das Zurschaustellen von Kunst. Vielmehr ist sie ein Zugang ins Innerste des Menschen im Allgemeinen und des Komponisten im Speziellen, was ihn bewegt oder beschäftigt hat und was er gefühlt hat. Als Beispiel führt Avdeeva das Klavier von Władysław Szpilman an, das sie für die Aufnahme ihres zuletzt erschienen Albums bespielen durfte. „Da sind Gefühle im Spiel“, berichtet sie, „die man nicht in Worte fassen kann, aber zu denen man dann einen anderen Zugang erhält. Diese Instrumente sind wie Elefanten: Sie haben ein sehr langes Gedächtnis. Man glaubt, etwas verstanden zu haben, was man vorher nicht verstanden hat“.

Szpilman, der als polnischer Jude unter der Verfolgung der Nationalsozialisten litt, entkam im Warschauer Ghetto als Einziger in seiner Familie dem Tod. Einen Teil seiner Werke veröffentlichte die in Moskau geborene Pianistin zusammen mit Stücken sowjetischer Komponisten, darunter Schostakowitsch, Prokofjew – und Weinberg. „Weinbergs Musik“, verrät die Pianistin, „habe ich dank der Zusammenarbeit mit Gidon Kremer zu schätzen gelernt.“ Kremer habe mit ihr zusammen das Klavierquintett erarbeitet. Dieses ist von bedrückender Ernsthaftigkeit und schöner Lyrik geprägt und war die Initialzündung, sich mit der Musik des ebenfalls unter nationalsozialistischen Repressionen leidenden Weinberg zu beschäftigen, noch lange vor der europäischen Renaissance des Komponisten.

Sergej Rachmaniniow dient Yulianna Avdeeva als pianistisches Vorbild

Zu Größen wie Daniel Barenboim, Martha Argerich oder Gidon Kremer pflegt die Pianistin ein gutes Verhältnis. Die Möglichkeit des Austausches ist ein glückliches Privileg, viele der Kollegen sind auch ihre Vorbilder. Das epochenübergreifend größte pianistische Vorbild ist Sergej Rachmaninow, nicht zuletzt, da dessen Aufnahmen eigener Werke ein umfassendes Verständnis seines Œuvres ermöglichen. Schließlich berichtet die russische Pianistin von einem weiteren ihrer Lieblingskomponisten und -pianisten: Franz Liszt. Hier setzt sie sich weniger mit dem virtuosen Hauptwerk auseinander als vielmehr der intro­vertierten und nihilistischen Musik des Spätwerks, welche für Yulianna Avdeeva „ein Tor zur Musik des 20. Jahrhunderts ist“.

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