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Interview Hélène Grimaud

„Ein Kompromiss kann das Wachstum fördern“

Leidenschaftlich am Klavier, reflektiert im Gespräch: Hélène Grimaud weitet die klingende Miniatur zum Blick aufs große Ganze.

vonSören Ingwersen,

Nein, einen Beitrag für unsere Rubrik „Blind gehört“ möchte Hélène Grimaud nicht leisten, teilt sie dem Redakteur zum Gesprächstermin in einem Hamburger Hotel mit. Da ist wohl etwas mit der Kommunikation schief gelaufen, was ihr sehr leid tut. Aber für ein Interview steht sie gerne zur Verfügung. Aus dem „Blind gehört“ wird also ein „Spontan gefragt“.

Frau Grimaud, für Ihre letzten Alben „Water“ und „Memory“ haben Sie eine größere Zahl kurzer bis sehr kurzer Stücke zusammengestellt. Glauben Sie, dass den Zuhörern in unserer schnelllebigen Zeit der Atem für längere Werke abhandenkommt?

Hélène Grimaud: Ich hoffe nicht. Ich selbst habe immer die großen Stücke bevorzugt. Der lange Atem ist mein ureigenes Territorium. Ich finde sogar, diese kurzen Stücke sind für Interpret und Zuhörer letztendlich eine viel größere Herausforderung.

Inwiefern?

Grimaud: Um mich wirklich auf ein Stück einlassen zu können, brauche ich eine Architektur, eine kontinuierliche, groß angelegte Entwicklung. Das „Wasser“-Programm hätte ich unmöglich mit Pausen spielen können. Deshalb habe ich Nitin Sawhney gebeten, Überleitungen zu komponieren, die die Werke miteinander verbinden. So begann ich mit der ersten Note von Berio und endete fünfzig Minuten später mit der letzten Note von Debussy.

Auf „Memory“ gibt es zwischen den Stücken von Silvestrov, Debussy, Satie und Chopin, aber keine verbindenden Elemente …


Grimaud: Die waren geplant. Als Nitin Sawhney und ich anfingen, erneut zusammen zu arbeiten, stellte sich jedoch heraus, dass sein Respekt vor diesen Stücken – auch wenn sie sehr kurz sind – sehr groß ist, und ich wollte nicht, dass er sich durch die fragilen Strukturen dieser Musik irgendwie eingeschränkt fühlt. So arbeiteten wir getrennt und er fügte später als letzten Track ein selbstkomponiertes Echo hinzu.

Hélène Grimaud
Hélène Grimaud © Mat Hennek

Ist „Memory“ eine Hommage an vergangene Zeiten?

Grimaud: Ich verstehe den Begriff „Erinnerung“ anders. Mir geht es um einen Bewusstseinszustand, den wir alle teilen. Er stellt eine Verbindung zur Vergangenheit her, ist aber auch ein Leitfaden unserer Gegenwart oder sogar ein Schlüssel für die Zukunft. Die große Kraft der Musik besteht darin, dass sie die Schichten der Zeit herauslösen und uns als destillierte Eindrücke zur Verfügung stellen kann.

Können Sie das erläutern?

Grimaud: Wissenschaftler haben festgestellt, dass man niemals das tatsächliche Ereignis memoriert, sondern nur die jeweils letzte Erinnerung an ein Ereignis. So gesehen kann man einen Komponisten wie Erik Satie, den einige als kühl und kalkulierend wahrnehmen, ganz anders bewerten. Die Distanz wird hier nicht zum Feind, sie ermöglicht vielmehr, die Empfindung der Vergangenheit mit einzubeziehen, ganz ohne Schmerz oder Trauma. Die Distanz wird selbst zur kristallisierten, freischwebenden Emotion. Keine direkte, sondern eine reservierte Emotion. So wie Menschen, die es am wenigsten zeigen, oft besonders einfühlsam sind. Nur weil jemand herumhüpft oder sich einem an den Hals schmeißt, zeugt das noch lange nicht von größerer Intensität.

Distanz erzeugt Nähe? Das klingt paradox …


Grimaud: Ich liebe diese Zwischenzustände, wenn sich aus der nostalgisch-melancholischen Stimmung etwas Neues entwickelt. Ich habe auch immer den Regen, den Nebel, das graue Wetter gemocht. Wenn die Dinge unentschieden sind, ist alles möglich. Man könnte sagen, dass Leben und Tod zwei Stationen auf einer Reise sind, dessen Ziel der Augenblick ist. Der gibt einem immer die Möglichkeit, sich neu zu erfinden und mit seinem inneren Zentrum zu verbinden.

Wenn Sie ein Musikstück
häufig spielen – hat das für Sie mehr mit Erinnerung oder Neuerfindung zu tun?

Grimaud: Für mich ist es wichtig, nicht bei dem einmal Erreichten stehenzubleiben. Immer wenn ich mir ein Stück erneut vornehme, versuche ich es erst einmal – wie ein Mechaniker – auseinanderzunehmen und dann wieder zusammenzusetzen. Tue ich das nicht, ist die Gedächtnistafel nicht sauber und ich laufe Gefahr, nur die letzte Erfahrung mit diesem Stück zu reproduzieren. Nehmen wir an, ich spiele ein Konzert mit meinem Lieblingsorchester und -dirigenten, wo alles ganz natürlich fließt. Das nächste Mal spiele ich mit einem Orchester, das weniger gut zu mir passt. Soll ich das Konzert absagen, weil das Werk dann anders klingen wird? Man muss der Musik jedes Mal neu Leben einhauchen und von allem abstrahieren, was vorher passiert ist.

Aber Sie haben doch sicher bestimmte Vorstellungen als Interpretin …

Grimaud: Die sollte man aber immer wieder selbst hinterfragen. Wenn man beispielsweise Komponisten ihre eigenen Werke spielen hört – etwa Albéniz oder Debussy –, hört sich das immer ganz anders an, als man es erwartet. Debussy spielte seinen Walzer kratzbürstig und schnell und nimmt sich gegen- über seiner eigenen Partitur viele Freiheiten heraus. Das passt gar nicht zu dem vorherrschenden Bild eines eher kühlen Komponisten. Eindeutige Charakterisierungen sind zu einfach, denn Menschen sind komplex. Auch wenn Komponisten einem bestimmten Stil oder einer Aufführungstradition zugerechnet werden, sollte man sie nicht zu sehr in eine Richtung zu drängen.

Hélène Grimaud
Hélène Grimaud © Mat Hennek

Sie können aber auch sehr rigoros sein. Aus einer Produktion mit Claudio Abbado haben Sie sich wegen „künstlerischer Differenzen“ zurückgezogen …

Grimaud: Nicht zurückgezogen. Die Aufnahme von Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 existiert und ist sehr gelungen. Ich wollte sie nur nicht mit dieser Kadenz veröffentlichen. Das war aber kein künstlerischer Grund, er betraf nicht die Konzeption oder Spielweise, sondern nur dies eine Detail. Hinzu kommt: Je älter man wird, desto weniger Kompromisse möchte man eingehen, weil die Lebenszeit immer kürzer wird. Warum soll man sich in dieser kurzen Zeit noch ärgern? Ich mag diese Einstellung, weil sie einem viel Klarheit gibt. Man weiß, was man tun möchte, und tut es.

Kompromisse sind also ausgeschlossen?


Grimaud: Manchmal trifft man Musiker, mit denen läuft alles wie von allein. Dann wieder gibt es welche, die komplett andere Vorstellungen haben und man denkt: Wenn wir uns in der Mitte treffen, ist das ein guter Kompromiss. Das stimmt aber nicht. Künstlerische Kompromisse sind selten gut. In manchen Fällen kann ein Kompromiss aber auch das Wachstum fördern, wenn das Gegenüber so charismatisch und überzeugend auf einen wirkt, dass man sich zu transformieren beginnt. Diese Metamorphose kann sogar noch befriedigender sein als das erste Szenario. Man hat zuerst diesen Widerstand, der ständig Spannung bringt. Aber Spannung ist positiv, kraftvoll und reaktionsfreudig. Wenn man sich darauf einlässt, kann etwas Großartiges entstehen.

Mit welchen Musikern haben Sie derartige Erfahrungen gemacht?

Grimaud: Mit Christian Thielemann, Mikhail Pletnev oder Valery Gergiev.

Widerstände überwinden und daraus Kraft schöpfen – das kling sportlich.


Hélène Grimaud: Musik hat ja auch viel mit Sport zu tun. Einer meiner Lehrer sagte, Musiker sind die Athleten der kleinen Muskeln. Und die sind viel empfindlicher und gefährdeter als die großen Muskelgruppen. Sportler bekommen Physiotherapien, Massagen und medizinische Betreuung. Es ist der reine Wahnsinn, dass Musiker auf diese Unterstützung komplett verzichten müssen, obwohl viele sich völlig verausgaben. Ein finnisches Institut hat belegt, dass es ein bestimmtes Zeitfenster für eine hundertprozentige Konzentration gibt. Man kann nicht sechs Stunden ohne Pause üben, auch wenn man glaubt, es zu tun. Die Gefahr beginnt dort, wo das Gehirn sich von der körperlichen Tätigkeit löst und der Automatismus einsetzt. Wenn die Aufmerksamkeit für das, was der Körper macht und wie die Energie fließt, verloren geht, ist das zerstörerisch.

Sehen Sie hier Hélène Grimaud mit dem Adagio aus Mozarts Klavierkonzert Nr. 23:

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