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Geigerin Alina Pogostkina im Interview

„Der Stachel sitzt tief“

Geigerin Alina Pogostkina steht abseits des rummelhaften Musikbetriebs und ist genau deswegen ein echter Stern am Himmel

vonChristian Schmidt,

Seit Alina Pogostkina, soeben 34 geworden, vor zwölf Jahren den Internationalen Sibelius Wettbewerb in Helsinki gewann, hat die Geigerin, die einst durch die russische Schule ging, international Erfolg – sowohl mit dem klassischen Repertoire als auch auf der Barockgeige. Sie gehört der Generation der „neuen Geigerinnen“ an, aber sie ist nicht austauschbar: Im Interview berichtet Alina Pogostkina über die durchaus zwiespältigen Erfahrungen als Wunderkind – und welche Einsichten aus dieser Zeit sie noch heute weitergeben kann.

Sie sind in einer Geigerfamilie großgeworden. Nervt das manchmal?

Alina Pogostkina: Ich habe das nicht anders gekannt, es war für mich völlig selbstverständlich, damit aufzuwachsen. Heute sehe ich das auch an meiner eigenen Tochter, die gerade einmal zweieinhalb Jahre alt ist: In ihr Leben wurde die Musik völlig natürlich integriert, meine Geige ist auch Teil ihres Lebens, und sie will jetzt auch eine haben. Später in der Pubertät habe ich mich schon gefragt, ob das so stimmt. Ich liebe zum Beispiel auch das Cello sehr, ich mag das Klavier … Letztlich spielt es keine Rolle, welches Instrument man sich aussucht, es ist ein Mittel zum Zweck. Ich brauche die Geige, um etwas auszudrücken. Sie ist seit 30 Jahren mein Werkzeug. Abgesehen vom materiellen Wert meiner aktuellen Stradivari, der mir nicht wichtig ist, schätze ich sie sehr als Persönlichkeit. Sie reagiert auf meine eigene Stimmung.

Wie alt ist Ihr Instrument?

Pogostkina: Genau 300 Jahre. Sie wurde von verschiedenen Menschen gespielt, war also unterschiedlichen Schwingungen ausgesetzt. Es ist ein weiches Material, das davon beeinflusst wird. Seit ich sie zum ersten Mal in den Händen hielt, hat es ein Jahr gedauert, bis ich zu ihr gefunden habe, bis die Geige das auch in sich aufgenommen hat. Sie brauchte Zeit, und ich brauchte auch Geduld. So ein Instrument reagiert nicht sofort, man muss achtsam sein.

Alina Pogostkina
Alina Pogostkina © Nikolaj Lund

Sie haben als Straßenmusikerin angefangen. Wie stark hat Sie das geprägt?

Pogostkina: Als Musikerin nicht besonders, aber es gehört zu meiner Geschichte, es war eine Episode. Wenn, dann in dem Sinne, dass ich jetzt Glück habe, wenn die Menschen mir richtig zuhören. Ich betrachte die heutige Achtsamkeit im Konzertsaal als luxuriösen Zustand, der nicht selbstverständlich ist. Diese Wertschätzung versuche ich in meinem Herzen zu bewahren.

Klingt nach bitteren Erfahrungen.

Pogostkina: Im Gegenteil! Ich habe in dieser Zeit gelernt, den Menschen zu vertrauen und den Glauben an das Gute nicht verloren. Weil das Leben in Russland sehr schwer und recht aussichtslos war, sind wir eben als Straßenmusiker nach Deutschland gekommen. Hier haben wir viel Hilfsbereitschaft erfahren, wurden teilweise von fremden Leuten für längere Zeit mit nach Hause genommen und mussten nichts dafür bezahlen. Wir waren in Not, die Hilfsbereitschaft hat mich geprägt.

Sie haben schon mit 13 ihren ersten Wettbewerb gewonnen, was halten Sie vom Begriff „Wunderkind“?

Alina Pogostkina
Alina Pogostkina © Nikolaj Lund

Pogostkina: Das ist ein sehr schwieriges Thema. Ich bin dankbar für alles und wurde früh gefördert, was mir heute eine ganz große Freiheit ermöglicht. Auf der Bühne fühle ich mich zu Hause. Aber ich habe auch sehr viel gelitten in meiner Kindheit, der Erfolg hatte einen hohen Preis. Dramatisch für Wunderkinder ist häufig, dass Bestätigung und Liebe verknüpft sind mit Leistung. Dann hat das Kind gar keine Wahl, es kann das nicht auseinanderhalten und hat Angst zu versagen. Es muss immer besser sein als andere, damit es geliebt wird. Das ist fatal, ein Stachel, der sehr tief sitzt. Ich möchte das für mein eigenes Kind nicht. Das hat nichts Natürliches und nichts Gesundes.

Wie kann man junge Menschen fördern und unterstützen, ohne sie diesem Leistungsdruck auszusetzen?

Pogostkina: Das ist sehr individuell. Mein Weg als Pädagogin ist ein Weg der Annahme, der Akzeptanz und Fürsorge. Viele junge Menschen sind damit beschäftigt, Leistung zu bringen, und verzagen sehr schnell. Erfolg stellt sich aber nur ein, wenn man sich selbst annimmt, sich selbst vertraut. Entwickeln kann man sich nicht von heute auf morgen. Ich bestärke meine Studenten, Mensch zu sein. Sie dürfen Fehler machen. Alles andere geht auf Dauer nicht, weder emotional noch physisch.

Dieser Ansatz widerspricht auf wohltuende Weise dem heutigen Trend, den Nachwuchs zur bloßen Perfektion zu treiben.

Pogostkina: Ich glaube, man muss sich immer die Frage stellen, wie man seinen eigenen Ausdruck findet. Natürlich gehört das technische Grundhandwerk dazu. Aber wie sehr kann ich mich fallen lassen? Wie sehr kann ich meine Fehler zulassen? Bin ich nicht dann erst authentisch? Ein perfekt durchgespieltes Konzert interessiert mich nicht. Aber Sie haben Recht, es herrscht sehr viel Kälte und Härte im Musikbetrieb. Je mehr ich davon loslasse, etwas erreichen zu sollen, desto besser kann ich mich fallenlassen. Meine Lehrerin Antje Weithaas hat mich sehr darin unterstützt, dass ich meine eigene Stimme finden muss. Sie sagte nie: Spiele das so! Sondern fragte immer: Wie möchtest du das spielen?

Alina Pogostkina
Alina Pogostkina © Nikolaj Lund

Was bedeutet für Sie Karriere ganz praktisch? Wie viel Glück ist auch dabei?

Pogostkina: Ich glaube überhaupt nicht an Glück. Wir kreieren unser Leben selbst. Das hat viel damit zu tun, wie viel man sich selbst wert ist. Es gibt einige, die gut sind und trotzdem keinen Erfolg haben. Er kommt nur, wenn man sich ihn auch zugesteht. Je mehr ich loslasse, desto mehr kommt er zu mir. Wenn es wirklich mein Weg ist. Man muss nicht zu irgendeiner Zeit irgendetwas geschafft haben, das ist bloß so von der Gesellschaft vorgegeben. Ab einem gewissen Alter sollte man zwar eine gewisse Technik haben, aber vielleicht findet man andere Wege?

Vielleicht ist auch das Repertoire zu eng. Halten Sie Neue Musik für eine Pflicht?

Pogostkina: Ich habe ein bisschen gebraucht, um mich mit zeitgenössischer Musik anzufreunden. Es braucht mehr Zeit, bis die Musiksprache meine wird. Ich würde nicht sagen, dass es eine Pflicht ist. Aber es ist sinnvoll, dass man viele unterschiedliche Stile kennenlernt. Was drückt unsere Zeit aus, die unser heutiges Leben betrifft? Es ist hilfreich, sich mit allen Genres vertraut zu machen.

Sie haben ein Faible für Pēteris Vasks, dessen Werke Sie aufgenommen haben. Warum?

Pogostkina: Bei ihm ist mir der spirituelle Aspekt wichtig. In seinen Werken steckt viel Liebe, so viel Göttliches, sehr wenig Ego. Das liebe ich sehr.

Sie spielen auch Alte Musik mit der Barockgeige. Was hilft Ihnen das?

Pogostkina: Das bedeutet mir viel, es ist eine wunderbare Bildung: Wo sind die Wurzeln? Alte Musik schärft das Gehör und das Gefühl für Harmonie und Rhythmus. Ich spüre, was das mit meinem Körper macht. Hier kann man noch eine Dissonanz als schmerzliche Spannung erleben.

Hat es deswegen der klassische Konzertbetrieb schwer?

Pogostkina: Ich finde es schade, dass das so eine elitäre Veranstaltung ist. Dagegen bin ich sehr glücklich über unkonventionelles Publikum. Es gibt viele andere Möglichkeiten und Kunstformen. Hauptsache ist doch, dass der Mensch überhaupt mit Kultur in Verbindung steht. Viele sagen, wenn die klassische Musik ausstirbt, wäre dies das Ende der Zivilisation. Das finde ich arrogant. Natürlich ist es eine wunderschöne Sprache, die wir gelernt haben und die ich liebe, aber wenn das vorbei sein soll, kommt etwas anderes. Erzwingen kann man nichts.

Vermutlich auch nicht das Image einer „Stargeigerin“. Ist Ihnen das lieber als „Wunderkind“?

Pogostkina: Ich war auch schon die „Geigenfee“. Sei’s drum. Wenn es den Leuten Spaß macht, mich so zu sehen, ist mir das recht. Es geht mir nicht darum, wie ich besonders interessant wirken kann, sondern authentisch. Ich will keine perfekte Stargeigerin ohne Fehler sein.

Sondern?

Pogostkina: Der Mensch.

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