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Cellist Gautier Capuçon im Interview

„Öffne deine Augen und dein Herz!“

Nach einschneidenden Erfahrungen setzt Cellist Gautier Capuçon neues Vertrauen ins Leben – und in die Musik

vonSören Ingwersen,

Am Tresen von Warner Music Germany in der Hamburger HafenCity gibt es leckere belegte Brötchen, die von einem Empfang übrig geblieben sind. Hier treffen wir Gautier Capuçon, der mit seinen bunten Bändchen am Handgelenk einen Hauch von indischer Spiritualität verströmt.

Herr Capuçon, Ihr neues Album heißt „Intuition“. Ist Intuition für einen Musiker wichtiger als
 der Intellekt?

Gautier Capuçon: Intuition ist etwas, was wir alle haben – besonders Kinder. Sie kennen ihre Gefühle sehr genau, können sie nur nicht erklären, weil ihr Kopf noch nicht trainiert ist. Wenn man älter wird, verliert man diese unmittelbare Intuition. Wir beginnen, über Musik zu reden, unsere Technik zu schulen, über Phrasierungen, Linien und Absichten des Komponisten nachzudenken. Das alles ist natürlich sehr wichtig. Trotzdem sind Inspiration und Intuition für mich unverzichtbar. In den letzten Jahren habe ich einen Prozess durchgemacht, der von mir gar nicht initiiert war, sondern ganz von selbst in Gang kam. Ich realisierte: Wir alle haben Intuition und können uns entscheiden, ihr zu folgen – nicht nur im musikalischen Bereich.

Sie spielen auf Ihren Burn-Out vor vier Jahren an?

Capuçon: Es begann mit der Geburt meiner zweiten Tochter. Da gab es eine Zeit, in der ich einen Monat lang quasi nicht das Haus verlassen habe und sie mehrmals in der Nacht aufgewacht ist. Man realisiert gar nicht, wie müde der eigene Körper ist und macht einfach weiter, weil man glaubt, jung und fit zu sein. Dann ging ich wieder auf Tournee. Leistungsdruck und der Jetlag führten aber dazu, dass ich im Hotel kollabierte. In dieser Zeit lernte ich meine Grenzen kennen, lernte, was geht und was nicht. Genug Schlaf ist genauso wichtig wie Sport. Ich habe angefangen zu meditieren und dadurch einen neuen Teil von mir entdeckt. Eine großartige Erfahrung.

Warum haben Sie sich für ein Album mit kurzen, eher bekannten Charakterstücken entschieden?

Capuçon: Ich wollte dieses Album schon vor vielen Jahren aufnehmen, bin aber der Meinung, Dinge sollten immer auf natürliche Weise entstehen und man sollte den richtigen Moment abwarten. Schließlich geht es hier um Werke, die ich wirklich liebe und meist als Zugaben oder in Recitals spiele. Aber nur, weil diese Stücke häufig gespielt werden, sind sie alles andere als simpel. Nehmen Sie Massenets „Meditation“ aus „Thaïs“ oder Saint-Saëns „Schwan“. Das Stück dauert keine vier Minuten, aber seine Melodie ist wirklich außergewöhnlich. Das ist pure Musik. Sie ist auch schwer zu spielen, weil man in dieser Kürze sofort den richtigen „Ton“ treffen muss.

Gautier Capuçon
Gautier Capuçon © Felix Broede

Warum haben Sie so eine enge Beziehung zur Kammermusik?

Capuçon: Kammermusik spielte in meinem Leben immer eine große Rolle, weil ich sehr viele Werke auf diesem Weg entdeckt habe. Zu Beginn meiner Karriere habe ich mit meinem Bruder sehr viel Kammermusik gespielt. Dieses Jahr gibt es eine große Trio-Tour mit Jean-Yves Thibaudet und Lisa Batiashvili. Zwei Jahre zuvor habe ich eine Tour mit Leonidas Kavakos gemacht. Letzten Endes ist mir aber ein Dvořák-Konzert genauso wichtig wie ein Schubert-Trio. Bestimmte Vorlieben korrespondieren mit bestimmten Lebensabschnitten. Man sollte nichts forcieren, sondern schauen, wohin es einen führt. Ich vertraue dem Leben. Es gibt für alles einen Grund.

Hat es zwischen Ihnen und Ihrem Bruder Renaud jemals Rivalität gegeben?

Capuçon: Für mich war es fantastisch: Ich hatte einen fünf Jahre älteren Bruder, war mit ihm in Chambéry und in Paris, wo er anfing, Konzerte zu geben. Ich sah ihn auf der Bühne, als er dreizehn war und ich erst acht. Das war für mich sehr inspirierend und motivierend. Er war ein großes Vorbild für mich. Ich habe nie eine Rivalität gespürt, denn wir machen nicht das gleiche: Er spielt Violine und ich Cello.

Waren oder sind Sie neidisch, dass Ihrem Bruder als Geiger ein ungleich größeres Repertoire zur Verfügung steht?

Capuçon: Natürlich ist das Repertoire für Violine größer als das für Cello. Aber darüber sollte man sich als Solist nicht ärgern. Stattdessen sollte man dafür kämpfen, dass neue Werke entstehen. Auftragswerke sind eine großartige Chance, direkt mit Komponisten zusammenzuarbeiten. Aber wir sollten auch dafür sorgen, dass unbekanntere Werke gespielt werden: die Cello-Konzerte von Henri Dutilleux, William Walton oder Witold Lutosławski sowie das zweite Cellokonzert von Schostakowitsch oder Brittens „Cello Symphony“ werden viel zu selten aufgeführt.

Wie gehen Sie mit den Erwartungen des 
Publikums um?

Gautier Capuçon
Gautier Capuçon © Catherine Pluchart

Capuçon: Für mich zählt nur eines: Man muss ehrlich zu sich selbst sein und die Stücke, die man aufführen möchte, ernst nehmen. Man kann das Publikum nicht belügen. Wenn der Musiker so tut als ob, hören und fühlen die Menschen das sofort. Was das Repertoire anbelangt, bin ich sehr offen und finde, dass noch viel getan werden muss. Wir sollten daran arbeiten, nach und nach die Grenzen zwischen unterschiedlichen Künsten und Musikstilen einzureißen. Aber immer in verantwortlicher und musikalisch sinnvoller Weise. Es gibt einfach zu viele Schubladen.

Gibt es einen Solisten, Lehrer oder Komponisten, der Sie besonders beeinflusst hat?

Capuçon: Mein größter Einfluss ist das Leben selbst. Alles hängt davon ab, ob man bereit ist, etwas zu sehen, etwas zu akzeptieren, etwas zu teilen. Öffne deine Augen und dein Herz! Das habe ich in den letzten Jahren gelernt. Aber auch meine Lehrer haben mir sehr viel gegeben, weil sie genau im richtigen Moment in mein Leben traten. Begegnungen mit Kollegen waren ebenfalls wichtig. Als sehr junger Musiker mit Martha Argerich zusammenzuspielen war ein unglaubliches Geschenk.

Sie sind einer der drei Juroren der französischen TV-Show „Prodiges“, in der nach dem Vorbild von „Deutschland sucht den Superstar“ junge klassische Sänger, Musiker und Tänzer gegeneinander antreten. Ist diese mediale Form geeignet, Menschen
die klassische Musik näherzubringen?

Capuçon: Wir arbeiten mit jungen Leuten und bringen klassische Musik zwei Mal im Jahr zur Hauptsendezeit mit rund viereinhalb Millionen Zuschauern – darunter auch viele Kinder. Das Niveau steigt mit jedem Jahr, und wir vergeben auch Stipendien. Natürlich kann man solche Konzepte kritisieren, aber ich finde die Sendung fantastisch, weil wir sehr vielen Menschen eine Musik näherbringen, die sie zuvor gar nicht kannten. Kinder sehen Kinder musizieren und wollen dann auch selbst ein Instrument spielen. Sie müssen keine professionellen Musiker werden, aber wenn sie für zwei oder drei Jahre mit Klavier, Geige oder Cello die Musik entdecken, ist schon viel gewonnen.

Wie alt sind Ihre Töchter? Spielen sie auch ein Instrument?

Capuçon: Meine Töchter sind acht und fünf Jahre alt. Die jüngere hatte im vorletzten Jahr nur einen Weihnachtswunsch: ein Cello. Wir erfüllten ihr den Wunsch, und sie hat auch hin und wieder darauf gespielt, aber sie möchte noch keinen Unterricht nehmen. Meine ältere Tochter spielt Geige und hat mit dem Klavierspiel begonnen. Ich wünsche mir, dass meine Töchter Musikunterricht nehmen, denn sie haben das Glück, in einem musikalischen Elternhaus aufzuwachsen. Aber ich werde nichts erzwingen.

Sie sind 36 Jahre alt und
 reisen als gefragter Solist um die Welt. Wie sehen Sie Ihre Zukunft?

Capuçon: Das ist die Widersprüchlichkeit des Musikerdaseins. Einerseits habe ich sehr viel gemacht, andererseits habe ich das Gefühl, ganz am Anfang zu stehen. Es ist faszinierend und zugleich ärgerlich, dass, obwohl man ein Stück bereits hunderte Male gespielt hat, jedes Mal denkt, man muss es schon wieder neu einstudieren. Man kann sich die Musik nicht einfach greifen wie ein fertiges Ding. Darin besteht aber auch die Magie. Kein Tag gleicht dem anderen: Abhängig davon, mit welchem Orchester, Dirigenten, Pianisten, Geiger man vor welchem Publikum in welcher Halle auftritt, ist die Situation jedes Mal eine andere. Und genau deshalb brauchen wir die Musik, denn jeder hat etwas anderes, etwas Persönliches zu sagen.

Gautier Capuçon über sein neues Album „Intuition“:

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