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Lebenswege Rudolf Buchbinder | OPUS Klassik für das Lebenswerk

„Ich bin noch lange nicht fertig!“

Mit fünf spielte er Schlager, als Teenager in Bars: Heute ist Rudolf Buchbinder Klavierlegende sowie Festivalleiter und prägt seit fast 70 Jahren das internationale Musikleben. Hier erzählt er von seinem Lebensweg.

vonNinja Anderlohr-Hepp,

Im Juni 2020 trafen wir Rudolf Buchbinder in seinem Zuhause in Wien für ein langes Gespräch. Gerade eben hatten in Österreich die ersten Konzertsäle nach der Corona-Schließung wieder aufgemacht und der Pianist in seiner Heimatstadt zwei Livekonzerte gegeben. Schon lange stand für concerti fest, dass wir seinem beeindruckenden Lebenslauf Raum in unserem Magazin geben wollten. Umso mehr freut es uns als Redaktion, dass die Jury des OPUS Klassik 2020 Rudolf Buchbinder am 18.10.2020 mit dem Preis für sein Lebenswerk auszeichnen wird und gratulieren dem Pianisten sehr herzlich. Wie es dazu kam, lesen Sie in unserem neuen Format „Lebenswege“.

Jetzt, da ich die ganze Welt kenne, bin ich dankbar, in Wien leben zu dürfen. Dass ich in Böhmen geboren wurde, war nur Zufall: Meine Familie stammt aus der Umgebung von Wien. Mein Vater starb noch vor meiner Geburt bei einem Verkehrsunfall. Gemeinsam mit meinem Bruder Klaus wuchs ich in sehr ärmlichen Verhältnissen in der Nachkriegszeit auf. Besonders für meine alleinerziehende Mutter war es schwer, sie musste den ganzen Tag arbeiten. Meine Familie hatte mit Musik nichts zu tun, aber bei uns in der Neustiftgasse stand ein Pianino, darauf ein Radio und darüber die Kopie einer Lebendmaske von Beethoven. Im Nachhinein war das Schicksal: Als Bub spielte ich die Schlager aus dem Radio nach, später wurde Beethoven zum Begleiter meines Lebens.

Irgendwann las mein Onkel in der Zeitung, dass die Musikakademie junge Talente sucht und meldete mich zur Aufnahmeprüfung an. Ich war damals fünf Jahre alt und spielte den Schlager „Ich möcht gern dein Herzklopfen hör’n“ und wurde aufgenommen. Damals war ich der jüngste Student in der Geschichte der Akademie. Trotz des Altersunterschieds haben mich die Älteren immer mitgenommen: Bis in die frühen Morgenstunden hinein saßen wir in den Bars in Wien, da war ich dreizehn oder vierzehn. Einmal wurden wir sogar von der Polizei angehalten. Wir behaupteten, dass wir von einer Kammermusikprobe kämen – drei Pianisten! Damals gab es überall in Wien Livemusik, und kaum betrat ich ein Etablissement, machte man für mich den Klavierhocker frei.

Mein erstes Konzert mit Orchester habe ich 1955 gegeben. Mit elf Jahren debütierte ich dann im Musikverein mit Beethovens erstem Klavierkonzert. Schon als Kind habe ich nie daran gedacht, irgendetwas anderes zu tun, als Klavier zu spielen. Tenor wäre ich gerne noch geworden, aber meine Stimme ist ein Phänomen: Die klingt nicht einmal im Badezimmer! Meine Frau Agi habe ich im Studium kennengelernt, auch sie war Pianistin. Was habe ich ihr für Liebesbriefe geschrieben! Wir haben Ende des Jahres unseren 55. Hochzeitstag. Ich bin sicher, dass ich ohne meine Frau nicht so erfolgreich gewesen wäre. Sie hat mich unglaublich unterstützt und mich vielleicht auch unbewusst gelenkt. Agi war immer zerrissen zwischen unseren Kindern und mir, obwohl für uns beide die Kinder im Mittelpunkt standen. Durch Agi ist mein Zuhause meine Oase, wo ich mich sammeln kann, wo ich Verständnis finde, wo man mich auffängt. Meine Frau ist eines der größten Geschenke in meinem Leben.

Rudolf Buchbinder: „Je älter ich werde, desto nervöser bin ich“

Als Pianist ist man ein Eremit. Vielleicht bin ich auch deshalb mit der Einsamkeit der Corona-Pandemie so gut zurechtgekommen – ich bin es einfach nicht anders gewohnt. Die ersten Wochen war ich ausschließlich im Haus. Meine Kinder waren regelrecht militant: Sie haben uns kontaktlos Lebensmittel geliefert, es war eine harte Zeit für uns alle. Andererseits konnte ich arbeiten, entspannen – eine erzwungene, aber gar nicht so nutzlose Ruhepause ohne Hektik, ohne Verpflichtungen. Das war neu für mich. Und jetzt ist alles anders. Ich war einer der Ersten, die nach dem Lockdown wieder ein Konzert gegeben haben – mit Blumenübergabe durch einen Roboter. Was gerade passiert ist: Die Politik macht die Kultur kaputt, nur der Maskenfabrikant hat derzeit gut lachen! Vieles wird sich ändern, und einiges hat man schon gelernt: dass beispielsweise vieles ökonomischer geht und man nicht für ein dreißigminütiges Treffen in eine andere Stadt oder gar in ein anderes Land reisen muss.

Klavierfestival-Ruhr 2020
Rudolf Buchbinder
Anneliese Brost Musikforum Ruhr| Bochum | 04 Juni 2020
Foto: Sven Lorenz | Essen

Wobei für mich das Reisen nie mühsam ist, weil ich überall innerhalb weniger Minuten einschlafen kann – auf Kommando! An einem normalen Konzerttag lege ich mir das Anstrengende auf den Vormittag: Anreise, Generalprobe und so weiter. Danach bin ich für niemanden zu sprechen. Da lege ich mich hin und versuche, die Nervosität soweit wie möglich von mir weg zu schieben. Je älter ich werde, desto nervöser bin ich – obwohl ich nach außen hin sehr ruhig wirke. Doch die Finger sind eiskalt und steif. Mit den ersten Tönen löst sich dann die Anspannung. Wahrscheinlich hat das damit zu tun, dass ich meine eigenen Erwartungen mit jedem Konzert immer höher schraube. In der Jugend war das alles einfacher, denn je mehr Erfahrungswerte man gesammelt hat, desto schwieriger wird alles. Gelernt habe ich auch, dass zu viel Üben nichts bringt. Man sollte sich nur dann ans Klavier setzen, wenn der Körper von Kopf bis Fuß daran beteiligt ist, und sich nicht kaputtmachen. Durch ökonomisches Üben bin ich auch heute noch imstande, die technisch schwierigsten Werke zu spielen. Und es fällt mir überraschenderweise leichter als vor zehn Jahren. Unsere Hände sind Hochleistungssportler, und die hören normalerweise um die dreißig auf. Ich aber will bis zu meinem Lebensende aktiv bleiben.

Dabei hilft mir auch meine Rolle beim Festival in Grafenegg. Eigentlich wollte ich nie selbst planen und Veranstalter sein. Das Festival habe ich nur deshalb übernommen, weil ich dort kompromisslose Freiheit genießen kann: Ich kann fast alles machen, was ich will, und ich kann die Crème de la Crème der Musik­welt engagieren. Wir gehen dort nicht über den roten Teppich, sondern über den Rasen. Unser Foyer ist 32 Hektar groß! Und solange ich das Festival leite, wird es kein Motto geben – das ist der allergrößte Blödsinn! Nach zehn Jahren fällt dir nichts mehr ein, und das Motto entsteht erst, wenn das Programm fertig ist. Das will doch keiner hören!

 

„Ich möchte in Erinnerung bleiben“

Ich sehe mein Talent als Verpflichtung gegenüber der Musik, aber auch gegenüber dem Publikum. Dessen Vergreisung ist unser Problem in Europa. Wir werden von der ganzen Welt beneidet, aber wir sind uns unseres Kultur­erbes nicht bewusst. Das erlebe ich in Asien zum Beispiel ganz anders: Dort sehe ich in den ersten Reihen nur Kinder! Nach Corona wird es eine gewisse Auslese bei Agenturen, Veranstaltern und Künstlern geben. Ich glaube, dass die Qualität steigen wird – und dass das Publikum nach Kultur lechzt. Da ist es dann auch egal, was gespielt wird. Ich finde sowieso, dass es viel zu viel Repertoire für Klavier gibt. Wir können glücklich sein, dass wir viel Auswahl haben, aber andererseits müssen wir damit leben, nicht alles lernen zu können. Bartók habe ich zum Beispiel nie gespielt, und jetzt ist es wahrscheinlich zu spät dafür. Die Frage ist auch: Kann und will ich mir die Arbeit des Erlernens in meinem Alter noch antun? Ich werde mich vielleicht wieder mehr Brahms und Chopin zuwenden. Die habe ich als Bursche viel gespielt – das wäre eine willkommene Herausforderung!

Ansonsten möchte ich weiterhin viel Zeit mit meiner Familie, meinen Freunden und meinen Hobbys verbringen. Mein Freundeskreis ist sehr groß, schließt aber relativ wenige Musiker mit ein, denn ich will nicht immer nur über Musik reden! Ich interessiere mich auch für ­Malerei, Literatur – und Film! Da bin ich leidenschaftlicher Sammler, ich besitze über 4.000 Filme. Otto Schenk und der Maler Arik Brauer sind meine Lieblingsfreunde, Peter Alexander vermisse ich jeden Tag. Jeder Künstler wohnt in seiner eigenen Schublade, in die er mehr oder weniger freiwillig gesteckt wird. Ich hoffe, dass auf meiner aber nicht „Buchbinder“ steht, sondern einfach „Musik“. Denn dann habe ich die ganze Palette für mich. Das Unglaubliche an meinem Beruf ist, dass man nie aufhört zu lernen – es gibt kein Ende des Lernens, immer entdeckt man etwas Neues in der Musik.

Und natürlich möchte ich in Erinnerung bleiben. Ich möchte mir erhalten, dass Professoren zu ihren Schülern sagen: „Hör dir mal diese Aufnahme vom Buchbinder an.“ Und dass die Studenten dann damit etwas Positives und Lehrreiches verknüpfen. Vielleicht habe ich ja einen kleinen Beitrag dazu geleistet, wie das heutige Kultur­leben aussieht. Von der Nachkriegszeit bis heute war und bin ich als Musiker aktiv. Ich würde mich freuen, wenn auch ich als Einzelner etwas mitbewirkt haben könnte. Was mich aber ein bisschen traurig stimmt, ist, dass ich nie erfahren werde, was noch hätte kommen können, wenn ich einmal nicht mehr bin. Mein Motto ist nicht umsonst das Sokrates-Zitat: „Wer glaubt etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden.“ Aber ich bin noch lange nicht fertig!

Album Cover für The Diabelli Project

The Diabelli Project

Werke von Beethoven u. a. Rudolf Buchbinder (Klavier) Deutsche Grammophon

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