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Porträt Ensemble Schirokko

Interpretatorisch frei

Das Hamburger Ensemble Schirokko führt die Alte Musik auf neue Wege.

vonSören Ingwersen,

Der Schirokko bläst aus dem Süden über das Mittelmeer und überzieht die Länder Europas mit Wüstenstaub. Als Rachel Harris im Internet auf ein Foto stieß, auf dem die zugeschneiten Tiroler Berge mit rotem Saharasand bedeckt waren, drängte sich ihr der Name für das Ensemble geradezu auf. „Dieses Gefühl, dass eine Landschaft zugleich bekannt und unbekannt ist, faszinierte mich ebenso wie die Abhängigkeit des Menschen von der Natur, die in diesem Bild zum Ausdruck kommt“, erinnert sich Rachel Harris, Konzertmeisterin des Ensemble Schirokko, das sie 2007 gegründet hat. „Ich wollte auf hohem Niveau ­musizieren, aber ohne Leistungsdruck und Perfektionismus, sondern durch Musikalität, Respekt und eine gemeinsame Sprache.“

Leistungsdruck – den hat die in Schweden geborene und in England und Deutschland ausgebildete Geigerin, die schon früh ihre Liebe zur Alten Musik entdeckte, am eigenen Leib erfahren: „Als Studentin habe ich fleißig Etüden geübt. Aber beim Konzert hatte ich dann eine Blockade, weil im Unterricht die Technik von der Musikalität getrennt wurde.“ Anders beim Ensemble Schirokko. Hier steht der musikalische Ausdruck an erster Stelle, genießen die 21 Musikerinnen und Musiker, die zum Kern des Ensembles zählen, größtmögliche interpretatorische Freiheit. Zudem ist Harris überzeugt: „Man spielt besser, wenn man weiß, dass man auch Fehler machen darf.“

Ensemble Schirokko: „Live-Konzerte sind unersetzbar»

Ein Dilemma in Zeiten, in denen Musik zu einem wesentlichen Teil digital, in Form von Aufnahmen konsumiert wird, auf denen jeder Fauxpas quasi für die Ewigkeit festgehalten ist. Den neuen Medien möchte sich das Ensemble nicht verschließen, gleichzeitig aber mit seiner Art der Darbietung daran erinnern, dass ein Live-Konzert unersetzbar ist: „Deswegen ist die Dramatik auf der Bühne so wichtig“, sagt Harris. „Eine klinisch saubere Interpretation hat für mich keinen Wert. Ich höre lieber einen ,dreckigen‘ Klang, wenn ich dafür die Persönlichkeit des Musikers erkenne. Diese menschliche Seite des Musizierens ist durch die Digitalisierung fast noch wertvoller geworden.“ Und sie findet ganz offensichtlich ihr Publikum.

Ob bei den Händel-Festspielen Halle, beim Festival Alte Musik Knechtsteden, beim Rheingau Musik Festival oder bei seinen zahlreichen Auftritten im norddeutschen Raum, etwa im Rahmen seines eigenen Festivals „Hamburg barockt!“: Das Ensemble Schirokko fesselt die Zuhörer mit seiner energetisch aufgeladenen Spielweise auf Originalinstrumenten oder deren Nachbauten sowie mit Motto-Konzerten, die Geschichten erzählen und neue, überraschende, manchmal auch unbequeme Kontexte eröffnen.

Barocke Soundtracks zur bedrohten Natur

„Mit ,Battlefield‘ erzählten wir von historischen Schlachten, von Verlust und Tod. Das war schwierig, weil damals gerade der Ukraine-Krieg begann. Wir haben das Programm trotzdem aufgeführt, als Spiegelung der Gegenwart im Dreißigjährigen Krieg“, berichtet Harris, die die Ensemble-Auftritte oft moderierend begleitet. So auch beim Programm „Vivaldis Jahreszeiten – Ungezähmte Natur“, mit dem die Musiker im Großen Saal der Laeiszhalle die Weltbilder des Barock der heutigen bedrohten Natur gegenüberstellten. „Mit einem Zitat über die vielen ausgestorbenen ­Vogelarten hört man den fröhlichen Vogelgesang in Vivaldis ,Frühling‘ ganz anders“, sagt Harris, die die beliebte Sammlung barocker Violinkonzerte sowie Musik von Telemann und Jean-Féry Rebel mit Texten von Umweltorganisationen und der NASA konfrontierte. Für Harris einer der Höhepunkte in der Geschichte des Ensembles – neben dem Auftritt im Großen Saal der Elbphilharmonie, wo Schirokko das NDR Vokalensemble durch Monteverdis „Marienvesper“ begleitete.

Ganz gleich ob als großes ­Barockorchester mit über vierzig Musikern oder in verschieden besetzten Kammermusikformationen – das Ensemble Schirokko gehört zu den unermüdlich Suchenden und geht mit seiner historischen Aufführungspraxis ganz eigene Wege, indem es viele Werke seines Repertoires neu besetzt: „Zur Zeit des Barock waren die ausübenden Künstler oft auch die Schöpfer der Musik. Diese Kreativität fehlt den meisten Musikern heute. Indem ich Werke für unsere Besetzung umarbeite, versuche ich, diese Komponente zu ersetzen und das Schöpferische in uns zu wecken“, sagt Harris, die mit ihrem Ensemble – wie der Wüstenwind Schirokko – Bekanntes auf magische Weise in völlig neuem Licht erstrahlen lässt.

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