Opern-Kritik: Nationaltheater Mannheim – Marienvesper

Stille, dann Jubel

(Mannheim, 15.12.2018) Calixto Bieito lotet mit Monteverdis grandiosem Sakralwerk das Wunder der unbefleckten Empfängnis aus.

© Hans Jörg Michel

Marienvesper/Nationaltheater Mannheim

Jetzt ging am Mannheimer Nationaltheater der dritte Teil des dortigen Monteverdi-Zyklus über die Bühne. „Die Heimkehr des Odysseus“ in der Regie von Markus Bothe im März 2017 und „Die Krönung der Poppea“ in einer Deutung von Lorenzo Fioroni im März 2018 hatten bereits für Furore gesorgt. Für alle drei Teile sind die Barockspezialisten „il Gusto Barocco“ unter der Leitung ihres Gründers Jörg Halubek engagiert, die erneut mit historisch-informierter, aber lebendig-entstaubender Spielpraxis begeisterten.

Die Inszenierung eines liturgischen Werks

Mit der „Marienvesper“ stand nun erstmals ein Werk auf dem Programm, das ursprünglich nicht zur szenischen Realisierung komponiert wurde. Monteverdis 1610 im Druck erschienene Sammlung von Psalmen, Hymnen und Solo-Nummern zählt zu den musikalischen Höhepunkten des 17. Jahrhunderts und ist für den liturgischen Gebrauch vorgesehen. Das Ergebnis der Arbeit des berühmten spanischen Regisseurs Calixto Bieito, der 2015 in Mannheim Schillers „Die Räuber“ inszenierte, aber hier erst jetzt sein Opern-Debüt gab, wurde entsprechend mit Spannung erwartet.

Die Andeutung eines Altarraumes

© Hans Jörg Michel

Szenenbild aus "Marienvesper"

Marienvesper/Nationaltheater Mannheim

Als das Publikum den Saal betrat, hatte die Vorführung bereits begonnen. Die Maria, ein ganz in Weiß gewandetes Mädchen, sitzt auf einem Stuhl an der vorderen Bühne. Diese hat Anna-Sofia Kirsch nach Bieitos Konzept deutlich erweitert und in die ersten Sitzreihen hineingebaut, eine quadratische Auslassung in der Mitte bietet Platz für das Orchester, im Hintergrund erhebt sich ein hölzernes Halbrund, die Andeutung eines Altarraumes. Die Stelle, an der sich für Gewöhnlich das Kruzifix befindet, ist und bleibt jedoch leer, enttäuscht die Sehnsüchte nach und Erwartungen an eine Erlöserfigur. Das ist schlüssig, denn es geht ja viel mehr um Maria.

Der Auftritt der einzelnen Orchester- und Chormitglieder ist durchchoreografiert, geht der Musik voraus. Die setzt dann mit gestiegenem Fokus auf den vertonten Hilferuf „Eile, Gott, mich zu erretten“ ein. Bass Patrick Zielke, mit gutem Grund der Publikumsliebling des Abends, setzte die Messlatte mit seiner kräftigen, warmen Stimme hoch an. Der Cast zog erfreulicherweise komplett mit.

Bieitos untrügliches Gespür für seelische Abgründe

© Hans Jörg Michel

Szenenbild aus "Marienvesper"

Marienvesper/Nationaltheater Mannheim

Bald wird klar, dass Bieito keine stringente Geschichte erzählen möchte. Zwar ließ er sich von Stationen aus Marias Leben inspirieren, die vielen weiteren Situationen, die er kreierte, haben jedoch viel mit uns Menschen zu tun. Mit seinem untrüglichen Gespür für seelische Abgründe, das ihm den Ruf eines Skandalregisseurs einbrachte, lotet Bieito das Wunder der unbefleckten Empfängnis aus und formuliert fundamentale Fragen. Weil man das selbst sehen sollte, seien nur einige Beispiele genannt.

Moderne Erlösungshoffnungen

Viele der von den Chorsängerinnen gespielten Frauenfiguren sind schwanger. Als eine von ihnen meint, ihr sei beim Rennen die Fruchtblase geplatzt, entdeckt sie, dass ihr gewölbter Bauch nur eine Polsterung ist. Der gefüllte Stoff wird ihr gewaltsam weggenommen, Kinder werfen ihn sich zu, sie gerät in Panik. Ihr auf diese Weise enthüllter, zwanghafter Wunsch, ein Kind zu empfangen, ist er egoistisch? Aus sich selbst heraus scheint sie keine Ruhe, keine Gelassenheit zu finden. Projizieren wir unser Bedürfnis nach Erlösung auf unseren Nachwuchs, obwohl wir den Frieden selbst gestalten müssten?

Marienvesper: Personenkultur um die Gottesmutter

An einer anderen Stelle drängen sich alle an die als stumme Rolle besetzte Maria. Jeder möchte ihr Haar berühren, eine sie zu erdrücken drohende menschliche Masse türmt sich auf ihr. Zunächst scheint es, als sei sie die Verehrung gewohnt, doch dann geht ihr Atem schneller, immer größer wird ihre Angst um das eigene Leben. So stellt sich die Frage, ob wir nicht völlig überzogene Erwartungen an die Mutter Gottes stellen? Kippt der Personenkult so leicht ins Fanatische, vielleicht sogar Zerstörerische, wenn wir uns jemandem passiv zu Füßen werfen, anstatt den Glauben in uns zu erspüren und zu leben?

Der Maria zugeschriebene Text des Magnificat schließt die „Mariensvesper“ ab. In der Passage „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“ läuft dem Tenor Kristofer Lundin Blut über die Stirn – er hat die Wundmale der Dornenkrone empfangen. Lundin spielt und singt die Stelle sehr ergreifend, zeigt das Wirken Jesu als menschlich und zugleich ein unvermeidliches Risiko für das eigene Leben, das eingeht, wer seine Lehre beim Wort nimmt. Bieito macht sichtbar, wie revolutionär die Worte in Marias Gebet bis heute sind. Auch in der Demokratie lassen sich die Mächtigen ihre Macht nicht gerne nehmen.

© Hans Jörg Michel

Szenenbild aus "Marienvesper"

Marienvesper/Nationaltheater Mannheim

Ein sensibler „Skandalregisseur“

Der Vorteil, die „Marienvesper“ zu inszenieren, besteht darin, dass die Solostimmen individuelle, dramatisierte Botschaften setzen können. Im Sopran-Duo „Sancta Maria, ora pro nobis“ kippt die Anrufung von Amelia Scicolone und Nikola Hillebrand ins verzweifelte Flehen. Das wird besonders deutlich, weil das Orchester hier nicht mitzieht, sondern Farben goldenen Lobpreises daneben setzt. Die tiefen Blicke in individuelle Sorgen und Nöte waren aber nur möglich, weil das gesamte Team Bieitos Ansatz mitträgt. Der Regisseur wiederum hat sensibel mit der Musik inszeniert, stört an keiner einzigen Stelle den Fluss. Doch findet dieser leider auch ein Ende. Das Licht geht aus, die Mannheimer ließen dem Erlebnis noch einen Moment der Stille folgen und bejubelten sodann diese mutige „Marienvesper“ des Nationaltheaters.

Nationaltheater Mannheim
Monteverdi: Marienvesper

Jörg Halubek (Leitung), Calixto Bieito (Regie & Bühne), Anna-Sofia Kirsch (Bühne), Anna Eiermann (Kostüme), Nicole Berry (Licht), Cordula Demattio & Albrecht Puhlmann (Dramaturgie), Dani Juris (Chor), Amelia Scicolone, Nikola Hillebrand, Kristofer Lundin, Joshua Whitener, Raphael Wittmer, Anna Hybiner, Dominic Barberi, Patrick Zielke, Opernchor, „il Gusto Barocco“

Sehen Sie den Trailer zu Monteverdis „Marienvesper“:

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Verdi: I vespri siciliani (Premiere)

Maria Agresta (La duchessa Elena), Irène Friedli (NInetta), Quinn Kelsey (Guido de Monforte), Alexander Vinogradov (Giovanni di Procida), Sergey Romanovsky (Arrigo), Ivan Repušic (Leitung), Calixto Bieito (Regie)

Donnerstag, 13.06.2024 19:30 Uhr Opernhaus Zürich

Verdi: I vespri siciliani

Maria Agresta (La duchessa Elena), Irène Friedli (NInetta), Quinn Kelsey (Guido de Monforte), Alexander Vinogradov (Giovanni di Procida), Sergey Romanovsky (Arrigo), Ivan Repušic (Leitung), Calixto Bieito (Regie)

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