Anzeige
Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Zwischen Puff und Kloster

Opern-Kritik: Grand Théâtre de Genève– MANON

Zwischen Puff und Kloster

(Genf, 17.9.2016) Patricia Petibon und Olivier Py sexualisieren ihren Massenet ganz grandios

vonPeter Krause,

Ein Blanke-Busen-Ballett gibt’s schon in der ersten Szene. Vor dem ersten Ton allerdings rezitiert der wohlerzogene Warmduscher des Grieux gleich seinen Kant – natürlich in französischer Übersetzung: „Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Das Spannungsfeld des Stücks – zwischen Puff und Kloster – ist damit in wenigen Minuten bestens bestellt. Olivier Py mag’s gern deftig und deutlich. Der schwule Katholik führt immer wieder gern Regie in Genf, obwohl sein Inszenierungsstil im sittenstrengen protestantischen Helvetien viel eher für einen Skandal gut ist als im aufgeklärten Paris oder Avignon, wo er sonst mit Vorliebe wirkt.

 

Deftig, deutlich, dekorativ

 

Zu Massenets Manon freilich passt sein Zugriff perfekt. Denn das herrlich hybride Meisterwerk zwischen pointensicherer Opéra comique und leidenschaftlichem Liebesdrama ist mit seinen schnellen Szenenwechseln und seinem Stilmix eine Steilvorlage für Py und sein ausstattungsstarkes Team, das halt gern in prallen Bildern eine Show abschnurren lässt. Mancher Moment mag dabei dekorativ und weniger dramaturgisch tiefsinnig geraten, Spannungsabfälle muss man dafür nicht mal sekundenweise befürchten. Zumal dann nach der Pause endlich auch die Damen im Publikum zu ihrem Recht kommen, da nun auf der Bühne auch einige schmucken Herren zeigen, was sie in der Körpermitte denn so zu bieten haben.

 

Wahre Liebe vs. Liebes-Ware – oder: Geld und Sex regieren die Welt

 

Eine Botschaft hat der Abend gleichwohl: Erstens regiert Geld die Welt, zweitens der Sex, den man sich dafür kaufen kann. In einem hinterhofdunklen Rotlichtviertel gehen zu Beginn einige Damen in vier neben- und übereinander liegenden Kämmerlein dem ältesten Gewerbe nach. Neuankömmling Manon soll hier angeblich ins Klosterleben eingeführt werden, landet aber auf der falschen Seite dieser Welt, die kaum ein richtiges Leben, geschweige denn die wahre Liebe kennt, wo doch die Liebe längst zur Ware verkommen ist. Eine 16 Jahre junge Unschuld vom Lande ist die Genfer Manon indes nicht mal bei ihrem ersten Auftritt. Patricia Petibon gibt Massenets Heldin als Material Girl von unglaublicher Wandlungsfähigkeit. Alles an ihr ist verführerisch. Der drahtige Körper, der echte Rotschopf, die blauen Riesenaugen, die selbstsichere Sexualität.

 

Die französische Sopranistin legt die Figur in laufend wechselnden kessen Roben als singende Schauspielerin an, weniger als schauspielernde Sängerin. In selten gewordener Unbedingtheit „ist“ La Petibon die Manon. Gesang ist ihr stets nur das Mittel zum Zweck der Darstellung. Die girrenden Koloraturen bis hinauf zum hohen D sind dabei ihr Markenzeichen, doch auch das lyrische Liebesflüstern und das dramatische Aufbrausen eines wahren Vamps stehen der Petibon wie selbstverständlich zu Gebote. Klar, diese Manon ist eine Femme fatale, die, als sie des Grieux selbst- oder mindestens mitverschuldet verloren hat, dann aber auf einmal gar herzerweichend um seine wahre Liebe fleht. Da wird sie kurz vor ihrem – unerhört realistisch mit offenen Augen gespielten – Tod zur ganz fragilen Femme fatale. Grandios! Gänsehaut!

 

Zu einem packenden Opernabend wird diese Produktion aber auch, weil Marko Letonja im herrlich klingenden, ganz aus Holz gebauten Ersatztheater des altehrwürdigen Grand Théâtre seinen Massenet mehr in Richtung Puccini rückt, als man das hier, wo das Stück anders als in Deutschland zum Repertoire gehört, gewohnt sein mag. Mit prallen Farben, hohem, die Inszenierung mittragenden Tempo, auslandender Dynamik und viel echtem Theaterinstinkt lädt der Slowene mit dem bestens disponierten Orchestre de la Suisse Romande die Partitur auf.

 

Mit purer Passion und Werther-Ton: Bernard Richter singt des Grieux

 

Das hat auch Folgen für den Gesang. Zumal für Bernard Richter als des Grieux. Denn ein Tenor, der sich an die zweite, enorm kräfteraubende Hauptpartie des Stücks wagt, muss sich entscheiden: Legt er die Partie mit einer ätherisch leichten, typisch französischen Voix Mixte, also mit hohen Kopfstimmenanteilen an? Oder singt er die Partie eher italienisch? Mit vor Leidenschaft berstenden, körperlich geerdeten Spitzentönen? Bernard Richter wählt den zweiten Weg. Mit seinem Werther-Ton der entgrenzten puren Passion geht er wie seine Bühnenpartnerin aufs Ganze. Er riskiert viel und gewinnt meistens.

 

Manche Phrasen spinnt er im Überdruck der Gestaltung nicht voll aus. Imposant und im reinen Wortsinn bravourös ist sein Rollenverständnis allemal. Schauspielerisch bleibt er zunächst hinter der Petibon zurück, bleibt ein etwas zu hochanständiger hölzerner Held aus gutem Hause, der – sein Kant lässt grüßen – vor kitschig üppigem Sternenhimmel die Liebe auf den ersten Blick erlebt. Erst im Scheitern dieses romantischen Liebesidylls, wenn sein Vater ihn –  Verdis La Traviata lässt grüßen – zur Heirat mit einem braven Mädchen anhält, fährt er zu wirklich tragischer Größe auf. Groß besetzt sind die mittleren und kleinen Partien – zumal Manons berechnend böser Cousin Lescaut, dem Pierre Doyen seinen herrischen Kavaliersbariton leiht, und Bálint Szabó, der die Auftritte des Vaters Comte des Grieux mit belcantesker Bassgewalt auflädt.

 

Grand Théâtre de Genève

Massenet: Manon

 

Marko Letonja (Leitung), Olivier Py (Regie), Pierre-André Weitz (Bühne & Kostüme), Patricia Petibon, Bernard Richter, Pierre Doyen, Rodolphe Briand, Marc Mazuir, Bálint Szabó, Orchestre de la Suisse Romande

Auch interessant

Rezensionen

Anzeige

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!