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Opern-Kritik: Tiroler Festspiele Erl – La sonnambula

Echtes Dorfleben unter Belcanto-Gold

(Erl, 28.12.2025) Die Tiroler Festspiele Erl verankern sich mit ihrem Intendanten Jonas Kaufmann unter großer Publikumsnachfrage nachhaltig als Star-Hotspot mit Ensemblekontinuität in der Topliga der Opernfestivals. Das beweist gerade auch diese konzertante Premiere von Bellinis „La sonnambula“.

vonRoland H. Dippel,

Recht hat er. Nach der Pause tritt Erls Festspieldirektor Jonas Kaufmann vor das Podium und bittet mit Betörercharme darum, alle Smartphones auf stumm zu schalten. In den ersten 80 Minuten schob sich am 28. Dezember ein leiser wie unüberhörbarer Soundspace aus Klingel- und Signaltönen unter die beglückend souveräne Konzertaufführung von Vincenzo Bellinis Belcanto-Juwel „La sonnambula“. Das ist bei nichtkulturellen Events eine lässliche, hier allerdings sträfliche Achtsamkeitsinsuffizienz des eigentlich kultivierten und mit zahlreichen Fans durchsetzten Publikums der Tiroler Festspiele Erl. Denn es brillierte die längst zu einem weltweit führenden Belcanto-Leuchtturm gewordene Jessica Pratt als Waise Amina im Festspielhaus des nach Oberammergau bedeutendsten Passionspielortes der nördlichen Alpen.

Jessica Pratt als Amina in Bellinis „La sonnambula“
Jessica Pratt als Amina in Bellinis „La sonnambula“

Alles exklusiv um Partie und Primadonna

Die Australierin Pratt legt das künstlerische Schwergewicht auf atemberaubende Perfektion. Beim Wechsel von einem brillanten Schlusston zum sympathischen Strahlen ins jubelnde Publikum ist sie blitzschnell. Als am meisten erfahrene und einzige im Cast wechselte Pratt in der Pause die Robe: eine schöne Renaissance früherer Primadonnen-Usancen im prosaischen 21. Jahrhundert, das für die singenden Männer ungerechterweise noch immer die eher monotone Gesellschaftskleidung in Schwarz vorsieht. Zur Verlobung Aminas erscheint Pratt in einem Textiltraum aus Schneeweiß, Prinzessinnen-Pink und silbernen Pailletten, nach der Pause in eher schlichtem und deshalb noch romantischerem Königinnenblau.

Gerechtfertigt wird Pratts exponiertes Glänzen natürlich durch außergewöhnliches Können und individuellen Stil. Vincenzo Bellinis 1831 in Mailand uraufgeführtes „melodramma“ gehört zum „halbernsten“ Genre mit tragischen bis komödiantischen Figuren in ländlichen Ambientes bei glücklichem Ende. Sein Stammlibrettist Felice Romani übernahm das Sujet einer französischen und von Ferdinand Hérold zum Ballett gemachten Komödie „La sonnambule“ von Eugène Scribe und Delavigne.

Sarah Dufresne (Lisa) und Paweł Horodyski (Alessio) in Bellinis „La sonnambula“
Sarah Dufresne (Lisa) und Paweł Horodyski (Alessio) in Bellinis „La sonnambula“

Skandal im Landidyll

Die Waise Amina wird in der Nacht vor ihrer Hochzeit im Herbergszimmer eines verdächtig empathischen Adeligen gefunden, kann sich aber an nichts erinnern. Aminas guter Leumund und folgerichtig das Verlöbnis mit dem Gutsherren Elvino kippt. Alles wird gut, als die guten Dorfmenschen Amina beim Nachtwandeln auf dem schmalen Steg über dem Mühlrad ihrer Pflegemutter Teresa beobachten.

Auf den ersten Blick verfuhr Bellini in seiner Partitur wie ein romantischer Maler, der karge Landschaft mit mediterranem Goldlicht flutet. Doch hinter dem durch Musik geheiligten Dauerfluss von Liebes-, Enttäuschungs- und Sympathiebekundungen ereignet sich – kongenial zu sehen in Jossi Wielers und Sergio Morabitos Stuttgarter Publikumshit – eine bitterböse Dorfgeschichte. Die einzige Fragwürdigkeit im Erler Winter 2025/26 sind, wie schon in der als Produktion weitaus gröber geschnitzten „Lucia di Lammermoor“-Inszenierung von Louisa Proske am Vorabend, die entscheidenden Aussagen der Werke nivellierenden Striche. So entfällt in „La sonnambula“ der große Chor, mit dem die Schweizer Dorfgemeinschaft nach der Ausgrenzung Aminas mit dieser Mitleid empfindet.

Adolfo Corrado (Rodolfo) in Bellinis „La sonnambula“
Adolfo Corrado (Rodolfo) in Bellinis „La sonnambula“

Hypnotisches Schweben

Mit dem also auf Stichworte, Klangkulisse und Bellinis hübsche Schauerballade fokussierten Chor (ganz hohe Grundqualität durch Olga Yanum) und dem zwei Premieren in Folge leistenden Orchester der Tiroler Festspiele federt der geniale Dirigent Giacomo Sagripanti diese minimale Konzeptscharte ab. Die Musik schwebt und wird dadurch erst recht hypnotisch. Den Solisten ermöglicht Sagripanti durchweg Höchstleistungen. Auch die kleineren Partien sind hervorragend besetzt: Paweł Horodyski singt einen sympathisch pointierten Alessio, Valentina Pernozzoli eine prachtvoll jugendliche Müllerin Teresa. Der Kick von der schlichten Strophenromanze zu Pratts temporärer Koloraturkonkurrenz ist für die Gasthofbesitzerin und Grollschleuder Lisa allerdings zu wenig. Sarah Dufresne verkörpert eine formvollendete Seconda Donna, durfte aber gerade deshalb Lisas Eifersuchts- und Intriganz-Gen nicht hinreichend ausagieren.

Für Adolfo Corrado, der als einziger des Erler Winterensembles in „La sonnambula“ und „Lucia“ auftritt, entfällt leider eine Strophe seiner ersten großen Arie. Vokal und mit gestischer Emotionalität gibt er den idealen Gegenpart zu Levy Sekgapane, der die ebenfalls äußerst anspruchsvolle Partie des Gutsbesitzers Elvino mit packend deutlicher Artikulation auflädt und szenische Andeutungen setzt. So verwandelt der südafrikanische Tenor toxischen Biedermeier-Bullshit in Belcanto-Gold auf Höhe der Zeit. Auch weiß Sekgapane, wie er sich ins beste Licht setzt und trotzdem vorbildlich wie partituraffin echten Primadonnen dient.

Valentina Pernozzoli (Teresa) in Bellinis „La sonnambula“
Valentina Pernozzoli (Teresa) in Bellinis „La sonnambula“

Belcanto-Diva für Waisenmädchen und nächtliche Königinnen

Eine solche ist Jessica Pratt durch Können und Ausstrahlung. Leichthin legte sie die komplexe „Sonnambula“ ohne Pause zwischen zwei Termine als hochsportliche Königin der Nacht im Nationaltheater München. Amina ist eines von Pratts Paradestücken, die lange Schlussarie mit den von ihr atemberaubend gut gestützten Skalen wie höchst präzis gesetzten Spitzentönen sind bewundernswert in Forte, Piano und dazwischen. Vollauf legitim hat sie sich eine internationale Spitzenposition ersungen für Drama Queens wie aktuell Donizettis „Lucrezia Borgia“ und Porzellanfiguren wie Amina. Es zeichnet sich ab, dass die Tiroler Festspiele Erl sich erst mit Bernd Loebe und jetzt mit Jonas Kaufmann unter großer Publikumsnachfrage nachhaltig als Star-Hotspot mit Ensemblekontinuität in der Topliga verankern. Der als Elvino ursprünglich vorgesehene Francesco Demuro muss – sollte es einen gerechten Opernhimmel geben – nach seinem Erler Sensationsauftritt als „Postillion von Lonjumeau“ weitere Glanzpunkt-Gelegenheiten am Wilden Kaiser erhalten.

Tiroler Festspiele Erl
Bellini: La sonnambula

Giacomo Sagripanti (Leitung), Olga Yanum (Chor), Jessica Pratt (Amina), Levy Sekgapane (Elvino), Sarah Dufresne (Lisa), Adolfo Corrado (Rodolfo), Valentina Pernozzoli (Teresa), Paweł Horodyski (Alessio), Chor der Tiroler Festspiele Erl, Orchester der Tiroler Festspiele Erl

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