Woran einzelne Außenseiter scheitern, zeigt Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“ nur zu deutlich. Der Fischer lebt am Rand der Gesellschaft; sein aufbrausendes Gebaren macht ihn in den Augen der Dorfgemeinschaft verdächtig – des Andersseins, des Mordes, vielleicht sogar der Hexerei. Britten seziert hier die Dynamik schlechter Urteile, die kollektive Hysterie und das Mitschuldtragen eines Mobs am Untergang eines womöglich Unschuldigen.
Am Theater Luzern steht folgerichtig diese heterogene Gruppe im Vordergrund. Sie eint nicht nur das Handlungsmotiv, sondern das Milieu. Regisseur Wolfgang Nägele siedelt das Dorfleben in einer Fischfabrik an, deren graue Monotonie nur von blutverspritzten orangenen Schürzen durchbrochen wird – der einzige Farbtupfer, äußerlich wie innerlich. Nägele vertraut auf tragikomische Brechungen und lässt vieles bewusst offen: Die speckige Granitwand – ist sie Bollwerk, Fabrikmauer oder bloß Dorfgrenze? Ganz sicher ist sie die imaginäre Trennlinie zwischen Grimes und der Gemeinschaft, wenngleich eine einfache Schwimmbeckenleiter sie jederzeit überwindbar macht.

Wenn die Gemeinschaft zur einsamen Tristesse wird
Die Kneipe erscheint als Container, in den sich die Gesellschaft hineinquetscht – Freier, Prostituierte, kichernde Nichten auf Rollschuhen, der Pfarrer. Apotheker Keene verkauft im gelbstichigen Halbdunkel seine Drogen karikaturesk an der Rückwand. Grimes’ Zuhause dagegen ist ein Seegemälde auf einer Staffelei, vielleicht Sehnsuchtsprojektion auf ein unerreichbares Ideal. Jeder im Dorf hat sein Päckchen zu tragen, doch im Chor der Ankläger sind sich alle einig: Schuld ist Grimes, ob Beweise vorliegen, dass er seinen ersten, gar den zweiten Jungen getötet hat, oder nicht.
Nägele unterlegt das mit einer weiteren Brechung, denn die Dorfbewohner in Brittens Werk, dass um 1830 spielt, bedienen sich einer Verurteilungsdynamik des Mittelalters, und sind modisch doch in der provinziellen Stilunsicherheit der 1980er verhaftet, die zumindest eine gewisse gesellschaftlichen Entwicklung erwarten lässt. Gestrickte speckige Pullover treffen auf Lederweste und Tweedsakko, alles in kartoffelgelben Brauntönen. Selbst der Pfarrer trägt Bomberjacke über dem Kollar. Das Spielzeug des zweiten Jungen, dessen Wutopfer Grimes wird, ist ein Jo-Jo – ein Relikt der 90er, längst aus der Zeit gefallen.

Klanggewaltiger Chor, manchmal mit Musical-Allüren
Aus der Zeit gefallen wirkt mitunter auch die Personenführung des Chors. Dabei ist er das tragende Element in „Peter Grimes“: Viele Figuren drängen sich auf der knapp bemessenen Bühne, was die Regie zu notdürftigen Kniffen zwingt – mal erstarrt der Chor als unbeweglicher Block in einer Bühnenecke, mal marschiert er in Musicalmanier mit weißlichtüberfluteten Gesichtern bis an den Rand der Rampe, um die Handlung mit einem dramatisch verzögerten Keil zu durchstoßen. Der akustischen Qualität tut dies freilich keinen Abbruch.
So sehr die Regie auf jede Spur von Meer auf der Bühne verzichtet, umso stärker wogt und brandet es aus dem Orchestergraben. Jonathan Bloxham rüttelt kräftig an seiner orchestralen Wanne, hält das Wasser unaufhörlich in Bewegung. Es schwabbt, zischt, spritzt, überläuft – die berühmten Zwischenspiele treibt der Engländer nicht nur zu impressionistischen Skizzen auf, er lässt deren Farben auch nachhallen, stets klar geführt, ohne jemals manieriert zu wirken.
Protagonist in sängerdarstellerischer Höchstform
Gestalterisch stark zeigen sich Eyrún Unnarsdóttir als herzenssympathische, mütterliche Ellen Orford, die bis zum Schluss an Peter festhalten möchte wie auch in gleicher Funktion Vladyslav Tlushch in der tragischen Rolle des Captain Balstrode, der seinem Freund Peter schlussendlich zum Selbstmord rät.
Glänzend auch die Protagonisten: Eyrún Unnarsdóttir als herzenswarme, mütterliche Ellen Orford, die bis zuletzt an Peter festhält, und Vladyslav Tlushch als Captain Balstrode, der in tragischer Konsequenz zum Selbstmord rät. Den gestalterischen Höhepunkt aber setzt die Titelfigur: Brett Sprague, äußerlich gezeichnet als zottiger, verschwitzter, bärtiger Seemann, trifft den Ton des Peter Grimes mit Präzision. Zwischen cholerischem Wüstling und suchendem Träumer entlockt er der Rolle gleichermaßen eruptive Dramatik wie lyrische Tenortöne von betörender Schönheit – etwa wenn er den Sternenhimmel besingt und in eine ferne Zukunft aufbricht. Doch dieser Traum bleibt unerfüllt. Ob Balstrode, Ellen oder Grimes selbst: Am Ende erweist sich jede Hoffnung nur als Illusion einer besseren, einer farbigeren Welt.
Luzerner Theater
Britten: Peter Grimes
Jonathan Bloxham (Leitung), Wolfgang Nägele (Regie), Valentin Köhler (Bühne), Marie-Luise Otto (Kostüme), Petri Tuhkanen (Licht), Manuel Bethe (Chor), Brett Sprague, Eyrún Unnarsdóttir, Vladyslav Tlushch, Judith Schmid, Tania Lorenzo Castro, Elvira Margarian, Robert Maszi, Rueben Mbonambi, Valentina Stadler, Luca Bernard, Michael Temporal Darell, Opernchor und Extrachor Luzerner Theater, Luzerner Sinfonieorchester
Fr., 12. September 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Britten: Peter Grimes
Brett Sprague (Peter Grimes), Eyrún Unnarsdóttir (Ellen Orford), Vladyslav Tlushch (Balstrode), Judith Schmid (Auntie), Robert Maszl (Boles), Rueben Mbonambi (Swallow), Tania Lorenzo Castro (1. Nichte), Elvira Margarian (2. Nichte), Jonathan Bloxham (Leitung), Wolfgang Nägele (Regie)
So., 14. September 2025 15:00 Uhr
Musiktheater
Britten: Peter Grimes
Brett Sprague (Peter Grimes), Eyrún Unnarsdóttir (Ellen Orford), Vladyslav Tlushch (Balstrode), Judith Schmid (Auntie), Robert Maszl (Boles), Rueben Mbonambi (Swallow), Tania Lorenzo Castro (1. Nichte), Elvira Margarian (2. Nichte), Jonathan Bloxham (Leitung), Wolfgang Nägele (Regie)
Di., 23. September 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Britten: Peter Grimes
Brett Sprague (Peter Grimes), Eyrún Unnarsdóttir (Ellen Orford), Vladyslav Tlushch (Balstrode), Judith Schmid (Auntie), Robert Maszl (Boles), Rueben Mbonambi (Swallow), Tania Lorenzo Castro (1. Nichte), Elvira Margarian (2. Nichte), Jonathan Bloxham (Leitung), Wolfgang Nägele (Regie)
Do., 25. September 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Britten: Peter Grimes
Brett Sprague (Peter Grimes), Eyrún Unnarsdóttir (Ellen Orford), Vladyslav Tlushch (Balstrode), Judith Schmid (Auntie), Robert Maszl (Boles), Rueben Mbonambi (Swallow), Tania Lorenzo Castro (1. Nichte), Elvira Margarian (2. Nichte), Jonathan Bloxham (Leitung), Wolfgang Nägele (Regie)
Do., 09. Oktober 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Britten: Peter Grimes
Brett Sprague (Peter Grimes), Eyrún Unnarsdóttir (Ellen Orford), Vladyslav Tlushch (Balstrode), Judith Schmid (Auntie), Robert Maszl (Boles), Rueben Mbonambi (Swallow), Tania Lorenzo Castro (1. Nichte), Elvira Margarian (2. Nichte), Jonathan Bloxham (Leitung), Wolfgang Nägele (Regie)