Einstein in der Denkerstube: Er sitzt vor seinem meterhohen Bücherregal am Schreibtisch, vor jener Tafel, auf die er Legendäres wie die Formel E = mc² kritzelt und seine Assistentin auch mal ein paar Notenzeilen ergänzt. Später, die Beine baumeln herunter, sitzt der große Forscher, der doch auch ein großes Kind geblieben ist, hoch auf dem Regal sitzend und überdenkt seine Werke.
Einstein auf dem Fahrrad: Erst saust er ganz normal geerdet auf dem Boden der Realität über die Bühne, schließlich diese(n) verlassend, strampelt er durch die Lüfte, den Perspektivwechsel wagend, die Welt aus der Distanz betrachtend und gerade so womöglich Bahnbrechendes enteckend. Die Relativitätstheorie?
Einstein am Strand: Lustvoll lächelnd schaut er zwei jungen Damen beim Federballspiel zu, die auf den Sand fallende Feder hebt er auf und reicht sie ein ums andere Mal der falschen Dame, jener mit dem Punktverlust, die ja gar keinen Aufschlag hat. Derweil schwebt eine Meerjungfrau ein, ihre Schwanzflossen schlagen schon mal auf den Strand auf – eine virtuose Einlage einer Trapezkünstlerin.
Deutlicher kann ein Statement nicht sein. Denn ist das Zentralwerk des amerikanischen Duos Glass und Wilson überhaupt eine Oper?
Die Schweizer Erstauffaufführung von „Einstein on the Beach“ ist nicht irgendeine Premiere, die Oper von Philip Glass und Robert Wilson ist die Eröffnungsvorstellung der neuen Intendanz von Aviel Cahn, und sie bricht mit so ziemlich allem, was hier bislang als Oper verstanden wurde. Deutlicher kann ein Statement nicht sein. Denn ist das Zentralwerk des amerikanischen Duos Glass und Wilson überhaupt eine Oper? Oder negiert das Opus nicht einfach alles, was Operngängern heilig ist? Schönen Sologesang, traurige Liebesgeschichten, eine nachvollziehbare Handlung? 1976 als kühner Entwurf einer Anti-Oper ersonnen und seitdem weltweit meist in der Uraufführungs-Originalproduktion gezeigt, mithin mit den Bildern des Magiers der Slow Motion-Abstraktion, Bob Wilson, – ist das Werk nun am Grand Théâtre de Genève in einem Gegenentwurf zu bewundern. Der wird „Einstein on the Beach“ freilich traumwandlerisch gerecht, will dabei gar nicht provokant alles anders machen, als Wilson es einst vorgegeben hat. Doch es gibt am Genfer See eine unerhörte Fülle an Ideen staunend zur Kenntnis zu nehmen, ja, einen veritablen Theaterzauber.
Albert Einstein am Strand bekommen wir tatsächlich zu sehen
Doch der im Originalkonzept eher rudimentäre Bezug zu Albert Einstein wirkt nun deutlich geschärft, ja, der (von den Autoren so vorgegebene) prinzipiell handlungsfreie Abend beginnt durchaus scheinrealistisch und erzählerisch konkret mit dem Auftritt des Forscher-Genies in seiner Bibliothek. Und er gibt dann zumal der titelgebenden Bildwelt vom Meister am Strand, dessen Authentizität durch schwarz-weiße Originalfotos Einsteins in der Badehoe gut belegt ist, einprägsamen Raum. Das Publikum wird auf diesem Wege gleichsam abgeholt, kriegt also Einstein on the Beach wirklich zu sehen, bekommt einen erzählerischen Verständnis-Rahmen an die Hand. Das hilft.
Alles ist relativ, alles fließt, alles bleibt in Bewegung
Denn alsbald wird der anfängliche Naturalismus fantastisch geweitet, allerdings nicht ins frei oder gar beliebig Bebildernde und Assoziative abgleitend, sondern in sensibler Anbindung an Gedanken, die geradewegs durch die Musik evoziert wirken. Als da wären: Die Dehnung und Stauchung von (im Erleben niemals chronometrisch obkjektiver) Zeit; die Wiederkehr von Gewesenem und die Wiederholung von Immergleichem in nur winzigen Variationen; die Überwindung von durch die Raumzeit vorgegebenen Grenzen. Will sagen: Alles ist relativ, alles fließt, alles bleibt in Bewegung.
Fliegende Fahrräder und die Relativität unserer Bodenhaftung
Gleich mehrere szenische Leitmotive durchziehen den (gemäß hier eigentlich unangebrachter objektivierter Zeitmessung) vier pausenlosen Stunden dauernden Abend: Als lebende Wesen sind da der Herr Professor Einstein als zerzauster Wissenschaftler sowie als (weiblicher) Clown, eine Braut, ein Schmimmel. Als Bühnenelemente sind das farbig changierende Stelen, fliegende Fahrräder, um 45 Grad gekipppte Räume, in denen uns die Darsteller virtuos die Relativität unserer Bodenhaftung vor Augen führen.
Sinnfreies Spektakel?
Alles ist relativ. Auch die Frage, ob das hier zu Besichtigende denn nun noch eine Oper ist. Unsere Antwort: Es ist totales Theater, die Integration von Musik und Tanz, von Akrobatik, Zirkus und Manege, von Installation, Performance und Happening. Ein mutiges Gesamtkunstwerk, mithin das Ideal von der totalen Oper? Für manche Zuschauer lautet die Antwort aber auch: „Nein, non, njet.“ Sie finden das Ganze lächerlich, spektakelnd, sinnfrei. Es kommt wohl auf den Standpunkt an und das vorurteilsfreie Sich-Einlassen. Denn dann wird man reich beschenkt – mit einem Füllhorn der Fantasie.
Ganz im Flow
Und die Musik? Für sich genommen sind die repetitiven Floskeln von Philip Glass› Minimal Music eigentlich kein Big Deal. Über die Dauer von vielen Stunden aber entwickeln sie indes jenen Flow, jenen Stream of Consciuosness, dem man sich einfach anvertrauen muss und in dem man die Musik als solche kaum mehr wahrnimmt. Dann taucht man ein in den Strom der Töne und Texte, Bilder, Zeichen und Gesten und großen wie kleinen Bühnenwunder. Oberflächlich betrachtet ereignet sich hier ein Gegenentwurf zur klassischen Oper als zeitgenössische Performance, die allerdings nie in die Fallen tappt, wie so oft das Tanztheater des postmodern Anythin Goes. Denn dieser sehr besondere Abend hat dramaturgische Präzision, mithin das Gegenteil von performativer Beliebigkeit.
Konzetionelle Stringenz des Spektakels: La Compagnia Finzi Pasca
Verantwortlich für diesen enormen Bühnenrausch ist La Compagnia Finzi Pasca, die in der italienischen Schweiz ansässige Truppe um Daniele Finzi Pasca. Mit seinen zwischen Akrobatik, Tanz und Schauspiel irrlichternden Künstlern hat Pasca die Eröffnungen mehrerer Olympischer Zeremonien ebenso in Szene gesetzt wie die Opern „Carmen“ und „Aida“ und Shows von Cirque de Soleil. Anders als bei verwandten Truppen wie La Fura dels Baus allerdings, denen im sportiven Überschwang gern die konzetionelle Stringenz flöten geht, ist das Spektakel der Italo-Schweizer immer mehr als Spektakel. Es ist großes magisches Musiktheater. Allein über die Aussprache der englischen Texte ließe sich streiten. Doch auch sie fügt sich ein in die meditarrane Verspieltheit der Inszenierung, die „Einstein on the Beach“ am Grand Théâtre de Genève mit einem entscheidenden Mehrwert versieht.
Sogar die Gebrauchsanweisung funktioniert
Grenzen werden bei dieser Premiere auch in musikalischer Hinsicht durchlässig. Orchester wie Chor bestehen aus Studierenden der Haute Ècole des musique des Genève (HEM). Die Präzision der Einstudierung ist maßstabsetzend. Titus Engel wirkt am Pult wahre Wunder an Koordination und Motivation. Intendant Aviel Cahn kann glücklich sein über diesen Eröffnungserfolg. Ein wenig Publikums-Schwund während der Vorstellung muss er verkraften. Die Gebrauchsanweisung, wie die vier Stunden zu überstehen sind, funtioniert mithin bestens, unfall- und störungsfrei. Durch die freie Entscheidung, nach Belieben eine (Pinkel-)Pause zu einem Zeitpunkt eigener Wahl einzulegen, den Saal nach Belieben zu verlassen und wieder zu betreten, fühlten sich auch traditionsbewusste Genfer Opernfans keineswegs belästigt.
Grand Théâtre de Genève
Glass: Einstein on the Beach
Titus Engel (Leitung), Daniele Finzi Pasca (Regie), Hugo Gargiulo (Bühne), Maria Bonzanigo (Choreographie), Giovanna Buzzi (Kostüm), Alexis Bowles & Daniele Finzi Pasca (Licht), Roberto Vitalini (Video), Compagnia Finzi Pasca, Einstein-Ensemble