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Opern-Kritik: Oper Frankfurt – Carmen

Höhepunkt der Saison

(Frankfurt am Main, 5.6.2016) Constantinos Carydis und Barrie Kosky erfinden für sich und uns den Repertoirehit Carmen neu

vonAndreas Falentin,

„Früher war mehr Lametta“ heißt es in Loriots Weihnachten bei Hoppenstedts. Mit seiner fantastisch gelungenen Carmen bestätigt Kosky diesen komisch bedauernden Stoßseufzer. Spanisches findet sich hier allenfalls als ironischer Reflex – wie in den rosa Strümpfen Escamillos –, als glättender Form- oder Farbtupfer. Die Bühne, eine große Treppe, lässt wie die vielen hell geschminkten Gesichter und etliche Details an Kostümen und Haartrachten an den Expressionismus denken.

 

Aber anders als in diesem gut hundert Jahre alten Theaterstil geht es Kosky nicht um Kenntlichmachung durch Überzeichnung, obwohl die vielen von Otto Pichler fantasie- und ungewohnt geschmackvoll choreographierten Tanzeinlagen in diese Richtung zu weisen scheinen. Der Intendant der Komischen Oper will im Gegenteil eine Art inneren Realismus. Um Sex, Macht, Liebe und Freiheit geht es ihm, ganz klar, wie in den meisten Opern. Aber so scharfkantig, lebendig und genau geformt, so wirkungsmächtig und poetisch gestaltet wie hier gelingen Figuren höchst selten auf der Opernbühne.

 

Star-Tenor Joseph Calleja muss man gesehen haben

 

Zumal Kosky die seltene Fähigkeit besitzt, einen Charakter aus und mit der Persönlichkeit des Sängers zu entwickeln. Wie er etwa den Don José des so phlegmatisch-verdruckst wirkendenden Star-Tenors Joseph Calleja zum Fremdkörper innerhalb der Inszenierung macht, ohne Sänger oder Figur zu denunzieren, muss man gesehen haben. Nicht nur hier trifft sich Koskys Verständnis des Stückes mit dem des Dirigenten Constantinos Carydis. Der gestattet Calleja offenes Aussingen und bringt die vielen Farben dieser Weltklassestimme zum Klingen, setzt aber ansonsten auf gedrosselte Dynamik, vermeidet extreme Lautstärken und betont das tänzerische Element dieser Musik. Vor allem fordert Carydis den besonderen musikalischen Moment, die eigenständig geformte Phrase. Und Solisten, Choristen und Musiker folgen – wie auch im Spiel – mit brennender Begeisterung.

 

Das beginnt mit Daniel Schmutzhard, der aus dem Stierkämpfer Escamillo mit wunderbar leicht geführtem Bariton treffsicher einen charmanten Luftikus macht, und hört mit den grandios überdrehten Kataryna Kasper (Frasquita) und Elisabeth Reiter (Mercedes) noch lange nicht auf. Fast alles klingt frisch, geradezu neu, mehr nach Chanson oder Couplet als nach Arie oder Ensemble. Vieles scheint von Offenbach zu kommen, manches zu Puccini zu wollen.

 

Über einen Abgrund tänzelnder erzählerischer Sog – und eine herrliche Paula Murrihy in der Titelpartie

 

Einiges ist tatsächlich neu, denn Carydis und Kosky haben sich aus der aktuellen historisch-kritischen Ausgabe von Michael Rot eine eigene Spielfassung geschaffen. Ohne die ohnehin nicht von Bizet stammenden Rezitative, aber mit Ungehörtem, etwa den originalen Schlusstakten, einem wunderbaren Couplet für den Sergeanten Morales oder den „Vorgänger“ der berühmten Habanera, der hier in Kurzfassung an diese angeklebt wird. Immer wieder erklingt suggestiv die Stimme der Schauspielerin Claude de Demo vom Band, die mit rezitierten Regieanweisungen, Ausschnitten aus dem Libretto und dem Roman von Mérimée die Szenen verbindet.

 

So verleihen Fassung und Inszenierung dem Stück einen wie über einen Abgrund tänzelnden erzählerischen Sog, in dessen Mittelpunkt naturgemäß die Hauptfigur steht. In jedem der vier Akte sieht sie anders aus, scheint sie jemand anderer zu sein. Und doch ist diese Carmen immer ganz bei sich, knipst prickelnde Erotik nach Lust und Laune an und aus, spielt intensivst mit ihren Partnern und bleibt doch ganz selbstverständlich Mittelpunkt. Die seit 2009 in Frankfurt engagierte Irin Paula Murrihy spielt das ganz selbstverständlich und singt herrlich mit modulationsfähigem, nie gedrückten Mezzo.

 

Traum-Team Kosky und Carydis

 

Als Carmen sich an den eleganten Tropf Escamillo verliert, ist es aus mit der Selbstbestimmung. Sie verliert ihren Charme, ihre Biegsamkeit und Verführungskraft und ihr Leben. Kosky und Carydis machen das bestechend klar, klug und sinnlich. Großes Theater ist das, ein Saisonhöhepunkt nicht nur in Frankfurt. Das Publikum tobt vor Begeisterung, aber einige schreien „Buh“. Früher war eben mehr Lametta.

 

Oper Frankfurt

Bizet: Carmen

 

Constantions Carydis (Leitung), Barrie Kosky (Regie), Katrin Lea Tag (Bühne & Kostüme), Otto Pichler (Choreographie), Tilman Michael (Chor), Paula Murrihy, Joseph Calleja, Karin Vuong, Daniel Schmutzhard, Kataryna Kasper, Elisabeth Reiter, Sebastian Geyer, Michael Porter, Kihwan Sim, Opern-, Extra- und Kinderchor, Frankfurter Opern- und Museumsorchester

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