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OPERN-KRITIK: Grand Théâtre de Genève – TURANDOT

Von blutiger Archaik zum utopischen Menschsein

(Genf, 26.6.2022) Grandios gelungen: Der amerikanische Regisseur Daniel Kramer und das Künstlerkollektiv von teamLab nehmen das Märchen von der gefühlsvereisten Puccini-Prinzessin beim Wort und setzen dem martialisch Monumentalen magische Zauberzeichen von erlösender Kraft entgegen.

vonPeter Krause,

Ist die chinesische Prinzessin Turandot, dieses Wesen aus mythologischer Märchenzeit, nicht eigentlich schon eine frühe Feministin? Wie sie sich dem Reproduktionszwang widersetzt, den ihr Volk und ihr Vater (die in Würde gealterte Tenorlegende Chris Merritt) ihr zur Sicherung der jahrtausendealten Dynastie auferlegt, scheint auf den ersten Blick als eine moderne Emanzipationsgeschichte lesbar zu sein. Nur haben die diversen Versionen des Stoffs – von der persischen Fabel des 12. Jahrhunderts über den venezianischen Meister der Commedia dell’arte, Carlo Gozzi, im Jahr 1762 bis zu Friedrich Schiller und schließlich Giacomo Puccini – keine psychologisch ausgefeilten Persönlichkeiten kreiert, viel eher vom voraufklärerischen Schicksalsfaden geführte Typen, die ihre vorbestimmten Aufgaben erfüllen.

Archaische Konstellationen

Am Grand Théâtre de Genève tat Daniel Kramer nun also gut daran, in seiner Inszenierung wieder die archaischen Konstellationen des Stoffs zu beschwören, und nach bildmächtigen Wegen zu suchen, das Rituelle dieser „Turandot“ auf die Bühne zu bringen. Wichtiger Partner bei diesem – es sei vorweggenommen – grandios gelungenen Unterfangen war ihm das Künstlerkollektiv von teamLab, das für die Bühne und die gesamten höchst avanciert eingesetzten visuellen Technologien verantwortlich zeichnete. Die Inszenierung fährt damit volles Risiko. Denn Puccinis unvollendet gebliebener Schwanengesang, der hier am Genfer See nun mit der erst 20 Jahre jungen Finalversion von Luciano Berio zu hören ist, wurde bei der Uraufführung 1926 an der Mailänder Scala in ein präfaschistisches Italien hineingeboren. Bis zu seinem Tod 1924 scheint Puccini durchaus eine gewisse Faszination für die fatale neue Verführungsmacht empfunden zu haben. Er dachte und komponierte groß, sehr groß. Ja, man kann die monumentalen Chornummern seiner letzten Oper, die ja immerhin ein 10.000 Jahre altes (chinesisches) Reich auferstehen lassen, im Schatten der Rechten zu verstehen suchen. Dirigenten, die diese Schicht (wenn auch mit kritischem Interesse) betonen wollen, finden dafür Futter in der Partitur. Wie Puccini hier archaische Mechanismen aufleben lässt, ist evident. Doch diese in einer neuen Inszenierung zu offensichtlich im Lichte des Faschismus zu sehen, kann zu bösen Fehlschlüssen führen. Reichsparteitagslichtspiele auf der Opernbühne sind keine Lösung, sondern ein Problem.

Große Bilder am Grand Théâtre de Genève.
Große Bilder am Grand Théâtre de Genève.

Dialektisches Auspendeln von Affirmation und Negation

Geschmack ist da dem Kitsch vorzuziehen, kluge Brechungen, ein listiges Spiel mit den künstlerischen Zeichen, im Sinne von Adorno ein dialektisches Auspendeln von Affirmation und Negation. Auf diesen doppelten Boden begeben sich der amerikanische Regisseur und seine Meister des visuellen Zauberns nun gleichsam traumwandlerisch. Auf den ersten Blick denkt man an die „Turandot“-Visionen von Bob Wilson und ihre magischen Lichtstimmungen. Doch wo der Slow Motion-Experte in der Schönheit seiner Bilder letztlich nur die Musik bestätigt, hat sein Landsmann Daniel Kramer mehr Sinn für Zwischentöne. Dabei geht es bei ihm auch durchaus deftig zur Sache, wenn es darum geht, die kruden antiken Praktiken am Hofe der Turandot zu zeigen, mit denen die an emotionaler Vereisung leidende Prinzessin unfähige Bewerber um ihre Gunst eben nicht einfach einen Kopf kürzer macht, sondern diese kurzerhand kastrieren lässt. Gewalt ist in diesem System der Repression omnipräsent. Naturhafte Vorzivilisation trifft Orwells Überwachungsstaat. Den für die Männlichkeit so einschneidenden Vorgang des Verlusts der Körpermitte muss die Regie dabei nicht in blutigem Realismus vorführen, Kramer stilisiert den Schrecken, indem den Herren ein üppig blühendes pflanzenähnliches Gemächt entfernt wird. Und er findet für die ebenso zu ziemlich geschlechtslosen, interessant queeren Eunuchen verstümmelten Ping, Pang und Ping sogar ein poetisches Spielen mit dem Verlust, wenn eines der armen Wesen gar liebevoll einen hier eindeutig zweideutig konnotierten Steinspilz streichelt. Das der Commedia dell-arte entsprungene Trio war kaum je von sie viel tragikomischem Witz.

Die Zeiten und Zeichen mischen sich munter.

Kramer liebt aber auch die Mehrdeutigkeiten, die das Märchenhafte des Stoffs eben nicht abschließend und einengend deuten, sondern es assoziativ weitet. Die Chordamen sehen wie Nonnen aus, die aber dem Kukluxklan geklaute Spitzhüte tragen und am Hintern höchst fruchtbare Rosenblütenbuschen mit sich führen. Der transkulturellen Entstehungsgeschichte des Werks folgend mischt der Regisseur mit Kinie Nakano (Kostüme) die Einflüsse auch ganz unterschiedlicher Religionen. Die Pietà als zentrales christliches Ikon führt er mehrfach ein, besonders in der von beiden Seiten liebevoll empathischen Verbindung von Liù, einem anrührenden weißen Engel (Francesca Dotto mit verblüffend großen lyrischen Soprantönen), und Prinz Calaf im ersten Akt. Christliches Rituale, naturverbundener indianischer Kopfschmuck, der perfektionierte Druck amerikanischer Sekten – die Zeiten und Zeichen mischen sich munter, aber nie beliebig und nie dekorativ. Kramer wertet nicht moralisch, sondern führt uns die Figuren jenseits von Gut und Böse in einem Assoziationsraum vor, der den Denkprozess des Publikums in Gang setzt und, wenn man persönlich denn so will, den Anschluss an Populismus, Trumpismus und Putinismus möglich macht, ohne dabei je in platte Aktualisierung zu verfallen.

Regisseur Daniel Kramer bietet dem Publikum Raum für Assoziationen.
Regisseur Daniel Kramer bietet dem Publikum Raum für Assoziationen.

Calaf als parsifalesker Erlöser

Das Erstaunliche an dieser kunstvollen Methode der Deutungsweitung ist, dass die Figuren nicht eindimensional oder marionettenhaft wirken, sondern Identifikationspotenziale eröffnen. Die Turandot der Ingela Brimberg ist bei aller ihr zu Gebote stehenden enormen dramatischen Sopranmacht eine mitleidserregende Frau, die aus dem goldenen Panzer, in dem sie vom Bühnenboden einschwebt, allzu gern ausbrechen würde. Der Calaf des rumänischen Tenors Teodor Ilincăi, der vom sexuellen Eroberer zu einem parsifalesken Erlöser mutiert, gibt ihr die Chance dazu, indem er sich nach dem Lösen ihrer drei Rätsel in ihre Hand gibt und das so fatal vorherbestimmte, sich in ewigen Wiederholungen erschöpfende System aufbricht. Der verblüffende Schluss einer utopischen Entindividualisierung weist auch dank Luciano Berios Finalalternative in Richtung der Transzendierung. Dieses Finale zwischen Puccini, Wagner und Debussy zeigt Wege einer neuen Feinheit des Menschseins, die in einer nicht mehr sexuell eingeengten Liebe zu finden sein könnten. Maestro Antonino Fogliano und das Orchestre de la Suisse Romande ziehen hier an einem Strang in Richtung in Utopie. Das martialisch Monumentale der Partitur wird dabei keineswegs unter den Teppich großer Töne gekehrt, es beglaubigt sogar das in der Inszenierung vorgeführte totalitäre System. Doch stets scheint da auch die Hoffnung nach Humanität auf, blühen da die Sehnsuchtstöne auf, die in eine Zukunft jenseits von politischer wie sexueller Gewalt weisen.

Grand Théâtre de Genève
Puccini: Turandot

Antonino Fogliano (Leitung), Daniel Kramer (Regie), teamLab (Bühne), teamLab Architects (szenische Konzeption), Kinie Nakano (Kostüme), Simon Trottet (Licht), Tim Claydon (Choreographie), Stephan Müller (Dramaturgie), Ingela Brimberg, Chris Merritt, Liang Li, Teodor Ilincăi, Francesca Dotto, Alessio Arduini, Sam Furness, Julien Henric, Michael Mofidian, Chœur du Grand Théâtre de Genève, Orchestre de la Suisse Romande

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