Wenn sich das Jahr seinem Ende zuneigt, wird Bilanz gezogen und erschrocken festgestellt: Total vergessen haben wir die Umsetzung des auf der letzten Silvesterfeier beschlossenen guten Vorsatzes, endlich mal wieder in die Oper zu gehen. Die Karten für „La bohème“ sind fix erworben. Das eigentliche Problem aber taucht am Vorstellungstag auf: Was ziehen wir bloß an? Die Dame zwängt sich an einem nasskalten Adventssonntag in ihr Kleines Schwarzes, das sie seit Jahren nicht mehr getragen hat; und der Göttergatte bindet sich eine nicht wirklich mehr modische Krawatte um den arg eng gewordenen, bis oben zugeknöpften Kragen seines weißen Hemdes, was er tagsüber im Büro längst nicht mehr tun würde: Dresscodes sind durchlässig geworden.
Nur sind die Opernhäuser immer noch ein Hort der Traditionen? Über viele Jahrhunderte waren die Logen des gehobenen Bürgertums ein Salon der modischen und damit auch sozialen Repräsentation. Lange Kleider und High Heels sowie Smokings gehörten zwingend dazu. Wer freilich derart gewandet eine Abonnementsvorstellung in Berlin oder Hamburg besucht, ist heute weit mehr den spöttischen Blicken des Stammpublikums ausgesetzt als umgekehrt ein ausgewaschene Jeans tragender Student bei einer Premiere der Salzburger Festspiele oder des Glyndebourne Festivals in Südengland, wo die Zeit stehengeblieben scheint. Doch ansonsten gilt heute: Wer sich beim Theaterbesuch an die Rituale aus Opas Opernzeiten anpasst und allzu offensichtlich aufbrezelt, outet sich nachgerade als provinziell – so als hätte sie oder er sich auf die Goldene Hochzeit der Großeltern oder den Abtanzball des eigenen Teenagernachwuchses verirrt. Just die fraglos elitärste Staatsoper der Republik, die mit dem Nationaltheater in München auch eines der attraktivsten, zum Lustwandeln einladenden Foyers zu bieten hat, antwortet auf die Frage „Kein Opernbesuch ohne Abendkleid oder Krawatte?“ mit einem allzu entschiedenen Ausruf, dies sei „Quatsch“. Die Bayerische Staatsoper führt auf ihrer Homepage aus: „Wir möchten, dass Sie sich wohl fühlen.“ Für große Teile des Publikums bedeute dies, „sich für den besonderen Abend auch besonders schick zu machen. Einen offiziellen Dresscode gibt es aber nicht: Wir freuen uns über außergewöhnliche Outfits ebenso wie über Jeans und gemütliche Jumpsuits.“
Wohin nur mit dem feinen Zwirn?
Aufschlussreich ist der Nachsatz der liberalen Münchner Anziehregeln: Unter dem Stichwort „Sehen und gesehen werden“ wird dazu inspiriert, auf dem Instagram-Account des Hauses das individuell gewählte Outfit durch die Veröffentlichung von Selfies mit dem Rest der Opernwelt zu teilen. Die lustvolle Selbstinszenierung des Publikums ist also weiterhin erwünscht. Doch noch eine Frage bedrängt uns jetzt im Winter: Wo bleiben unsere Jacken und Mäntel während der Vorstellung? Wie die schmucklosen Spinde am Theater Dortmund eher jenen einer atmosphärisch neutralen Ganztagsschule gleichen und maximales Understatement demonstrieren, wirken auch die Tresen im direkten Umfeld der Toiletten an der Deutschen Oper Berlin rein funktional und passend zum sachlichen Sixties-Look des Baus an der Bismarckstraße. In Häusern allerdings, die ihre höfische Historie hochhalten, ist der Garderobenbereich als Ort des Übergangs vom grauen Alltag in die Sphäre der Rezeption von Kunst ein besonderer geblieben. Wer etwa im Nationaltheater München seinen Mantel abgibt, darf damit rechnen, dass dieser formvollendet und kostenlos vom ausgesprochen dienstfertigen Personal auf einen Bügel gehängt wird. Just in jenen Ländern aber, in denen die Hochkultur weit mehr als in Deutschland zu einer Kultur für alle transformiert wurde, hat sich auch das Entledigen von Jacken und Taschen gewandelt: So hängt man an der Oper Oslo seine Kleidung in Eigenverantwortung an einen nummerierten Haken. Niemand käme in dem offen zugänglichen Bereich auf die Idee, sich an Regenmänteln anderer Besucher zu vergreifen. Und siehe da: Die Wahl der Kleidung ist im ideal gemischten norwegischen Publikum so demokratisch divers, wie das Aufbewahren nicht benötigter Oberbekleidung niedrigschwellig abläuft.



