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INTERVIEW SIR NEVILLE MARRINER

„Ich würde so gern wieder Orchester gründen“

Sir Neville Marriner ist mit 87 Jahren noch voller Tatendrang. concerti besuchte den Gründer der Academy of St Martin in the Fields zum Exklusivtermin in London

vonPeter Krause,

Der 87jährige Maestro bittet zum Gespräch an einen Ort, der wahrlich Musikgeschichte geschrieben hat: sein wunderbar plüschiges Wohnzimmer in Londons feinem Kensington. Dort traf er sich in den 50er Jahren nur zum Spaß mit Musikerfreunden, um eine demokratische Art des orchestralen Miteinanders zu erproben: Unabsichtlich wurde so die Academy of St Martin in the Fields geboren. Im März dirigiert Sir Neville nun das Orchester der Komischen Oper Berlin.

 

Mr Marriner, nach dem Vorbild von Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra haben Sie ein junges Orchester mitbegründet, das aus 104 Musikern aus Osteuropa besteht. Da machen Künstler ehemals verfeindeter Sowjetrepubliken gemeinsam Musik. Wirkt die verbindende Kraft der Musik oder ist sie nicht doch ein Klischee angesichts der großen kulturellen und ökonomischen Unterschiede?

Natürlich passiert es in den Pausen, dass die Musiker der jeweiligen Länder sich zum Essen an getrennten Tischen treffen, um in ihrer eigenen Sprache miteinander zu sprechen. Aber musikalisch funktioniert der Austausch vollkommen selbstverständlich. Es ist faszinierend für mich zu sehen, wie stark die Musik verbindet. Ich glaube, dass unser Projekt des I, CULTURE Orchestra tatsächlich auch politisch hilft, in Osteuropa Brücken zu bauen. Es existiert ein enormes musikalisches Talent in dieser Gegend, so dass die Arbeit mir großen Spaß macht. Fast alle Mitglieder des Orchesters spielen die Musik zum ersten Mal in ihrem Leben, dadurch entsteht ein ganz einzigartiger, im besten Sinne nervöser Enthusiasmus.

 

Gab es Probleme zu überwinden?

Die fangen ganz praktisch bei der Stimmung an, die sich in den Ländern deutlich unterscheidet: Die Instrumentalisten muss man überzeugen, sich auf eine gemeinsame Tonhöhe zu einigen. Bei Holz- und Blechbläsern ist das gar nicht so einfach, denn die Instrumente sind so gebaut, dass sie in der Stimmung am besten klingen, die jeweils üblich ist. Bei den Streichern geht das einfacher, aber hier unterscheiden sich die Schulen des Unterrichtens immer noch sehr. Die russische Schule ist sehr stark, die polnische eine andere. Hier schnell einen gemeinsamen Geist zu finden, funktioniert wunderbar, es entsteht eine Einheit in der Vielfalt.

Sind das Besonderheiten, die sich in Osteuropa erhalten haben? Im Westen erleben wir doch eine Art Globalisierung des Klangs…

In den „Alten Zeiten“ – damit meine ich meine Jugend vor über 50 Jahren, merkte man doch gleich: Das ist ein typisch französisches, deutsches oder amerikanisches Orchester. Stilistisch und klanglich waren die unterschiedlichen Kulturen erkennbar. Hier hat es Angleichungsprozesse gegeben. Spitzenorchester tendieren dazu, alle ein bisschen gleich zu klingen. Ich erinnere, dass Karajan einmal sagte, dass er nicht sicher sei, ob er den Berliner Philharmonikern ihren Klang gegeben habe, oder ob nicht doch das Orchester ihm den Klang gegeben habe. Ich denke, dass bereits Furtwängler diesen spezifischen Sound der Berliner etabliert hat. Die Philharmoniker sind für mich das ideale Beispiel eines Orchesters, das sich seinen traditionellen Klang erhalten hat. Im Allgemeinen ist mit den Jahren die ökonomische Bedeutung, Aufnahmen zu machen, deutlich gestiegen. Dadurch haben sich die Unterschiede eingeebnet.

 

Können Sie Ihr persönliches Klangideal beschreiben?

Als ich die Academy of St Martin in the Fields in dem Zimmer gründete, in dem wir jetzt miteinander sprechen, waren wir zunächst nur 13 Musiker, brachten die Möbel heraus und probten miteinander. Da wir eine so kleine Gruppe waren, gab jeder seinen Input. In dieser Zeit wurde die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts viel zugänglicher, die nach dieser Klarheit und Vitalität verlangt. Die strebten wir an, arbeiteten sehr hart an der Transparenz der Textur. Das hat wunderbar geklappt mit Vivaldi, Bach und Händel, aber auch mit Mozart und Haydn. Bei Beethoven hatten wir den Eindruck, dass unsere Vitalität dazu tendierte, der Musik etwas von ihrem Gewicht zu nehmen. Da braucht man einen schwereren Klang, gleichwohl gilt auch hier mein Ideal von Transparenz.

 

Die frühe Gründung der Academy mit ihrer demokratischen Orchesterkultur fällt in die Zeit der letzten großen Diktatoren am Pult. War das nicht sehr ungewöhnlich?

Ich wurde ja zunächst Mitglied des London Symphony Orchestra, spielte dort unter Karajan, Toscanini und sogar noch unter Furtwängler. Daneben durchaus auch unter deutlich weniger distinguierten Dirigenten. Ich erlebte also die Frustrationen, in einem Orchester zu spielen. Psychologisch ist es sehr schwierig, kontinuierlich dein Bestes zu geben, wenn erstens das Leadership nicht erstklassig ist – wir nannten diese absolut dominanten Typen in den 50er Jahren „Son of a bitch“-Dirigenten. Und wenn man zweitens aufgrund der vielen Spieler das Gefühl hat, dass das Konzert sogar noch dann ganz gut läuft, wenn man selbst nur mit halber Kraft spielt. Es fehlt die individuelle Verantwortung. Aus Spaß trafen wir uns also mit Kollegen aus der London Symphony und weiteren Freunden, alle waren Streicher, um ein wenig mit Alter Musik herumzuwerkeln. Hinzu kam der Organist der Kirche von St Martin in the Fields, wir brauchten ja einen Cembalisten. Er kam dann nach zwei Jahren auf die Idee, ein Konzert in der Kirche zu geben, es würden schon einige Leute nach dem Gottesdienst dort bleiben. Komischerweise befand sich im Publikum dann eine Dame namens Luise Dyer, die gerade einen Musikverlag in Paris erworben hatte. Sie kam zu uns und fragte. „Wollt Ihr nicht ein paar Aufnahmen mit Alter Musik machen?“ Gleich die erste Platte wurde geradezu lächerlich gut rezensiert, wenn man bedenkt, wie unerfahren wir waren. Wir hatten einfach großes Glück.

 

Wie sind Sie dann vom Geigen- ans Dirigentenpult gewechselt?

Pierre Monteux kam zu mir und meinte, ich sollte statt mit meinem Bogen so herumzuwedeln, doch lieber lernen, richtig zu dirigieren. Er lud mich nach Amerika zu einem sechswöchigen Dirigierkurs ein, an dem auch André Previn und David Zinman teilnahmen. Zurück in England durfte ich mein Debüt als Dirigent des London Symphony Orchestra geben. Dann wurde ich gebeten, in Los Angeles ein Kammerorchester nach dem Vorbild der Academy zu leiten. Ich nahm meine Geige aber nicht mit nach Amerika, dirigierte nur. Langsam wurden auch die traditionellen amerikanischen Orchester auf mich aufmerksam: Deren Chefdirigenten hatten wenig Lust, Haydn und Mozart zu machen, so erhielt ich die Chance, dieses Repertoire zu erarbeiten. Irgendwann wollte ich aber selbst mal die Werke der Romantik machen. Ich leitete also auch als Chef große Sinfonieorchester, in Minneapolis und dann in Stuttgart, so begann meine eigentliche Karriere als Dirigent. Meine Geige gab ich an eine Dame ab, die sie hoffentlich noch hat (lacht).

 

Besteht die Gefahr, mit einem immer größeren Klangkörper die ursprünglichen Ideale des demokratischen Miteinanders einzubüßen?

Ja, das ist sicherlich so. Wenn man ein Dirigent wird, kann man nicht mehr demokratisch sein, es sind zu viele Menschen im Spiel. In einer kleinen Gruppe von Musikern weiß man alles voneinander, sogar über das Privatleben. Wenn man in einem Orchester zu viel voneinander weiß, wird es schwer, die Disziplin zu wahren.

 

Was bedeutet Ihnen Macht?

 

Als ich kürzlich nach Japan flog, hatte ich das Privileg einer Sonderbehandlung, musste nicht mit den anderen Reisenden anstehen und beim Zoll warten. Der Unterschied zwischen einem Orchesterspieler und einem Dirigenten ist schon enorm. Aber ich vergesse eben nie die Routine eines Geigers, der im Ensemble spielt. Der Zuwachs an Macht bringt mich manchmal aber auch in Verlegenheit. Zwischen alten Musikerfreunden und mir entsteht so eine Mauer, ohne eigentlichen Grund. Sie empfinden eine Art Autorität von meiner Seite, was ich traurig und schade finde. Soll ich denn nur noch Freundschaften mit anderen Dirigenten pflegen? (lacht)

 

Vertragen sich mehrere solcher starken Egos überhaupt?

Lorin Maazel oder der eine oder andere italienische Kollege verfügt immer noch über ausgeprägte Egos (lacht). Als ich hingegen mal eine Probe mit Leonard Bernstein beim New York Philharmonic besuchte, da begann ein Geiger eine Frage mit der Anrede „Lennie“. Er war einfach jedermanns Freund. Das Publikum scheint aber von den Mutis der Musikwelt, also dem altmodischen Typ des „Maestro“, durchaus stark beeindruckt zu sein. Bei mir macht eine solche Attitüde allerdings gar keinen Sinn: Denn immer wenn ich wütend werde, mache ich einen Narren aus mir.

 

Ihre Wurzeln als Musiker bleiben also stark?

Sie spüren sofort den Unterschied, ob ein Pianist zum Dirigenten wird oder ein Streicher. Letzterer spricht einfach die Sprache der Kollegen.

 

Kommt es vor, dass Sie für sich bestimmte Musik neu entdecken?

Mahlers Sinfonien hielt ich früher für bessere Filmmusik. Ich spielte sie dann im Orchester und genoss sie sehr. Bei Bruckner war das anders: Seine Sinfonien sind nichts für die Streicher, sondern nur fürs Blech (lacht). Mahler, den ich als Dirigent erst vor zehn Jahren entdeckte, aber war eine Offenbarung für mich. Letztlich besteht meine Arbeit aber darin, Stücke neu zu lernen, denn in meinem Alter vergisst man nach Jahrzehnten schon mal, wie ein Chopin-Konzert mit all den vielen Noten so läuft.

 

Im März kommen Sie nach Berlin und dirigieren ein britisches Programm mit dem Orchester der Komischen Oper. Was reizte Sie, eine Anfrage aus Berlin anzunehmen, die gar nicht von den Philharmonikern kam?

Ich bin gar nicht so wählerisch, es müssen nicht unbedingt die Philharmoniker sein. Ich arbeite sehr gern mit deutschen Musikern, weil ihr Niveau hoch ist und sie so gewissenhaft arbeiten. Gerade die Orchester, die nicht Berliner Philharmoniker heißen, bemühen sich manchmal noch mehr, genauso gut zu klingen. Da entstehen oft sehr glückliche Arbeitsbeziehungen. Überraschungen gibt es oft, wenn ich britische Werke mitbringe: Die Musiker merken, das ein Elgar besser klingt, als sie dachten. Übrigens wurde Elgar in Deutschland entdeckt, bevor wir seine Qualität bemerkt haben.

 

Haben Sie noch ganz neue Pläne oder Visionen?

 

Ich würde so gern wieder Orchester gründen wie die Academy. In unserer Zeit passiert es doch kaum noch, dass Menschen zusammenkommen, um nur aus Spaß gemeinsam Musik zu machen. Alles hat heute mit Geld zu tun. Auch junge Musiker stellen als erstes die Frage nach der Bezahlung und nicht nach dem Sinn von Kunst. Wir wollten einfach etwas anderes machen, als in einem Sinfonieorchester zu spielen. So entstand dann diese frische Freude des Musikmachens. Ich würde gern in einer Gesellschaft leben, in der so etwas ganz einfach passiert.

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