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Interview Sir John Eliot Gardiner

„Ich könnte nicht leben ohne meinen Hof“

Der Dirigent Sir John Eliot Gardiner über Beethoven, Bach und sein Leben als Bauer

vonArnt Cobbers,

Man kennt ihn als eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Alte-Musik-Szene. Sir John Eliot Gardiner, den die Queen 1998 in den Adelsstand erhob, leitet drei eigene Ensembles: den Monteverdi Choir, die English Baroque Soloists und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique. Doch der Engländer hat keine Berührungsängste mit „traditionellen“ Sinfonieorchestern – 1991 bis 1994 war er Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters, 2014 dirigierte Gardiner, der gut Deutsch spricht, das Gewandhausorchester – und brachte auch den Monteverdi Choir mit.

Herr Gardiner, Sie sind Spezialist für die historische Aufführungspraxis. Können Sie sich Ihrem Klangideal auch mit einem traditionellen Sinfonieorchester annähern?

Mittlerweile haben wir viel Erfahrung mit den Instrumenten, den Spielweisen usw. – das kann man in ein traditionelles Orchester übertragen, wenn das offen dafür ist. Die Hörner im London Symphony Orchestra zum Beispiel stopfen mit den Händen, die Kontrabässe spielen mit Darmsaiten, die ersten Pulte ebenfalls. Und beim Spiel bleibt die linke Hand ruhig, die Bogenhand ist für den Ausdruck und den Charakter zuständig.

Führt das nicht dazu, dass die Orchester einander immer ähnlicher werden, wenn alle alles spielen?

Ich glaube, man hört die Unterschiede sofort. Es ist ein Schritt nach vorn, dass ein Orchester wie das London Symphony Orchestra jetzt die Fähigkeit hat, spezifische Klänge zu entwickeln und nicht immer alles gleich zu machen. Und für das Orchestre Révolutionnaire et Romantique ist es eine Herausforderung, weiter ins 20. Jahrhundert vorzudringen. Da gibt es noch viel zu entdecken.

Vor einigen Jahren herrschte in der Alten Musik eine Aufbruchsstimmung, Sie haben damals gegen das Establishment ankämpfen müssen. Ist heute nicht etwas die Luft raus?

Nein! Man muss nur nach Amerika fahren und mit einem großen Sinfonieorchester versuchen, die Aufführungspraxis des 18. und frühen 19. Jahrhunderts umzusetzen, da hat man sehr viele Probleme. Die USA sind dinosaurisch, was die sinfonische Aufführungspraxis betrifft. Auch in Europa lehnen die meisten Musiker meiner Generation immer noch total ab, was wir in den letzten Jahren gemacht haben. Ich glaube, die Diskussionen bleiben. Die junge Generation ist locker und flexibel und neugierig, das stimmt, das ist wunderbar.

In den 90ern waren Sie Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters. Danach haben Sie sich nie wieder an ein subventioniertes Orchester gebunden. 

Ich habe es nicht gewollt. Ich habe viele Gastdirigate, mit einigen Orchestern wie dem Orchester des Bayerischen Rundfunks oder dem Concertgebouworkest verbindet mich ein sehr gutes Verhältnis. Aber meine Hauptarbeit sind meine drei Ensembles – das ist spannend.

Sie haben das Jahr 2000 ausschließlich Bach gewidmet. Man könnte vermuten, Sie hätten damit für den Rest Ihres Lebens genug Bach aufgeführt.

Nein. Die Faszination ist stärker geworden. Ich habe viele Bach-Pläne für die Zukunft.

Einige Musiker sagen: Von Bach gibt es kein schwächeres Werk.

Doch: zweieinhalb Kantaten. Und die Motette Lobet den Herrn ist auch kein Spitzenwerk. Aber insgesamt ist die Qualität unglaublich. Das kann man von Händel nicht sagen. Ich liebe Händel, aber ich kenne keine Oper, kein Oratorium, das nicht hier und da schwache Arien oder Chöre hat. Jephta ist ein fast perfektes Oratorium, aber nur fast. Theodora ebenso. Leider.

Ist Ihnen Bach als Person näher gerückt oder noch rätselhafter geworden?

Ich glaube, durch meine Arbeit über die vielen Jahre und vor allem im Jahr 2000 bin ich ihm nähergekommen. Ich bin ja unter Bachs Augen aufgewachsen. Das berühmte Porträt von Haußmann hing in meinem Elternhaus an der Wand. Es kam während des Krieges in einem Rucksack nach England, Walter Jenke, ein Musiker und Lehrer aus der Nähe von Breslau, brachte es auf seiner Flucht mit. Sein Großvater hatte es gekauft. Jenke war befreundet mit meinem Vater und hatte ihm gesagt: „Hier, häng es bei dir auf.“ Das ist das einzige authentische Bild von Bach, und es hing bei uns an der Wand, während ich als Kind die sechs Motetten von Bach auswendig gelernt habe. Später hat Jenke es an einen Musikwissenschaftler in Princeton, New Jersey, verkauft, der jetzt sehr alt ist. Wir werden sehen, ob das Bild nach seinem Tod nach Leipzig zurückkommt, das wäre gut. Was jetzt in Leipzig hängt, ist eine Kopie. Zwar von Haußmann selbst, aber sie ist nicht so gut.

Bach war also schon früh Ihr musikalischer Fixpunkt?

Einer von vielen – neben Monteverdi, Schütz, Byrd, Mozart, Beethoven.

Stimmt es, dass Sie auf einem Bauernhof aufgewachsen sind?

Das stimmt, mein Vater war Bauer. Mein älterer Bruder hat den Hof geerbt und später verkauft. Ich habe mir Schritt für Schritt einen neuen Hof und neues Land gekauft.

Und heute sind Sie zu gleichen Teilen Musiker und Bauer?

Das ist eine schwierige Balance. Aber während der Ernte oder wenn zum Beispiel Lämmer kommen, versuche ich auf dem Hof zu sein.

Aber Sie stehen nicht um 6 Uhr auf, um die Melkmaschine anzustellen?

Doch, na klar, das mache ich selbst.

Musiker sind doch fast alle Nachtmenschen.

Wenn ich unterwegs bin, habe ich einen völlig anderen Rhythmus als zu Hause. Das Musikleben ist total verrückt. Ich könnte nicht leben als Musiker ohne meinen Hof. Dieser dauernde Kampf ums Geld und mit den Sponsoren, diese Reisen, die so müde machen – man ist immer unterwegs. Und was sieht man? Den Konzertsaal, das Hotel, den Flughafen. Ich versuche immer etwas Zeit herauszuschinden, damit ich einen Stadtbummel machen kann, aber das ist nicht einfach. Es macht auch Spaß zu reisen – but there’s no glamour to it. Das Leben eines Musikers ist harte Arbeit.

Warum haben Sie zunächst Geschichte und Arabisch studiert?

Das war so: Ich bin in einer Laienmusiker-Familie aufgewachsen. Bei uns zu Hause gab es immer Musik, wofür ich meinen Eltern sehr dankbar bin. Ich habe früh Geige gespielt und gesungen, und es war für mich ganz natürlich, dass diese beiden Leben, Musik und Landwirtschaft, zusammengehörten. Dann kam ich in die Schule, und plötzlich war es total getrennt. Und ich war sehr unsicher, was von beidem dominieren sollte. Dann habe ich in Cambridge Geschichte studiert, das war wirklich eine Passion. Mein Lehrer sagte mir: Du musst dich entscheiden, was du wirklich willst. Ich sagte: Ich möchte mich mit der Marienvesper von Monteverdi beschäftigen und sie dirigieren. Gut, sagte er, mach es, gründe einen Chor und ein Orchester und erstelle deine eigene Ausgabe. Aber du musst etwas studieren. Willst du Musik studieren? Ich sagte: Nein, bitte nicht. Dann mache Arabisch, du hast den Enthusiasmus für die Situation im Nahen Osten. Nimm dir ein Jahr Zeit, um zu entscheiden. So habe ich es gemacht. Das war 1964. Und jetzt habe ich den Monteverdi Choir und meinen Bauernhof.

Aber Sie haben danach auch Musik studiert. 

1965 habe ich meinen Master of Arts in Geschichte gemacht. Dann bin ich nach London gegangen und habe ein phantastisches Jahr beim Musikwissenschaftler Thurston Dart am King’s College studiert und dann zwei Jahre in Paris bei Nadia Boulanger. Das war wirklich hart: Komposition, Harmonie, Kontrapunkt, alles. Das Dirigieren habe ich nebenbei auf Kursen gelernt. Und ich habe viel von Rudolf Kempe gelernt. Als ich meine erste Oper, Iphigenie auf Tauris, 1969 in Covent Garden gemacht habe, hat er dort Elektra dirigiert.

Woher kam Ihr Interesse für Arabisch?

Durch meinen Patenonkel, der Professor in Beirut war. Als Kind war ich mit meinen Eltern dort gewesen, und bevor ich nach Cambridge ging, da war ich 17, 18 Jahre alt, habe ich ihn besucht und da eine Weile bei der UNRWA gearbeitet, der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East. Die Situation zwischen Christen und Moslems, zwischen Westen und Osten, hat mich fasziniert, meine Magisterarbeit in Geschichte habe ich geschrieben über „Misunderstandings between Europe and the Arab World“. Ich verfolge die Geschehnisse dort immer noch sehr aufmerksam, aber mein Arabisch habe ich fast völlig vergessen. Leider.

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