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Blind gehört Alisa Weilerstein

„Ein Klang fast zum Essen“

Die Cellistin Alisa Weilerstein hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass sie erfährt, wer spielt

vonEcki Ramón Weber,

Am Abend zuvor hatte Alisa Weilerstein noch in München Haydns Cello-Konzerte gespielt. Nun empfängt die 33-Jährige in ihrer Wohnung in Berlin-Mitte zum Interview-Termin. Es ist der erste Tag ihrer Baby-Pause: Die kommenden Wochen wird die international viel gefragte US-amerikanische Cellistin erst einmal nicht mehr auf Konzertreisen gehen, sondern den Frühling in ihrer Wahlheimat genießen. Entspannt, doch zugleich sehr aufmerksam und innerlich erkennbar mitspielend, lauscht die Künstlerin auf dem Sofa ihres Wohnzimmers den verschiedenen Cello-Aufnahmen unseres „Blind gehört“-Interviews.

 

 Kodály: Cellosonate op. 8, 1.Satz

 Pieter Wispelwey

 1999. Channel Classics

 

Das ist Wispelwey! Mit Kodály! Ich erinnere mich daran: Als ich es selbst zum ersten Mal mit 21 Jahren einstudiert habe, bin ich auf diese Einspielung gestoßen. Es ist eine sehr barocke Interpretation von etwas, das ich persönlich eher als leidenschaftliches romantisches Stück auffasse. Er hat einen sehr leichten Klang, mit wenig Vibrato, die Gesten phrasiert er sehr schnell: An manchen Stellen hat er viel Vibrato und dann nimmt er es plötzlich weg. Auf diese Weise erhält er eine Menge unterschiedlicher Farben – wirklich sehr interessant. Aber, wie gesagt, ich persönlich mache es ganz anders: Vielleicht sind wir hinter den gleichen Dingen her, aber auf unterschiedlichen Wegen.

J. S. Bach: Cellosuite Nr. 1 G-Dur BWV 1007, Prélude

Pablo Casals

1938/2000. Naxos

  

Casals, Bach! Ja! Ich bin mit dieser Aufnahme aufgewachsen. Obwohl wir jetzt ein größeres Bewusstsein für stilistische Aspekte der Barockmusik haben und es womöglich nicht mehr unbedingt akzeptabel wäre, wie Casals Bach gespielt hat, ist das meine Lieblingsaufnahme dieser Stücke: Denn für mich ist es die ehrlichste und die ausdrucksvollste, ja, die schönste Aufnahme. Die Art, wie seine linke Hand auf dem Griffbrett liegt, ist sehr besonders: Man kann wirklich jeden einzelnen Finger hören, wie er auf die Saiten drückt. Und es wirkt, als ob er wirklich genau vor einem spielen würde. Ich liebe diese Unmittelbarkeit: Man kann diesen Klang fast essen.

Elgar: Cellokonzert e-Moll op. 85, 2. Satz

Jacqueline du Pré, London SO, J. Barbirolli

1965/2015. Warner

  

Ich will ganz sicher sein … ja, klar, Jacqueline du Pré mit Elgar. Eine meiner Lieblingsaufnahmen! Ich habe diese und ihre anderen Einspielungen fast jeden Tag gehört, seit ich vier Jahre alt war – und auch die Filmmitschnitte ihrer Konzerte gesehen. Mit zwölf zwang ich mich dann, die Aufnahmen zur Seite zu legen, weil ich das Konzert selbst einstudierte. Ich war sehr beeinflusst von Jacqueline du Prés Art, dieses Konzert zu spielen, aber ich wollte natürlich keine Kopie von ihr werden. Deshalb sagte ich mir, ich muss mich davon freimachen: „Entschuldigung Jackie, aber ich stelle Dich jetzt ins Regal und beginne meine eigene Beziehung mit dieser Partitur.“ Ich glaube, was mich vor allem fasziniert hat an ihrem Spiel, war ihre unglaublich natürliche Art des Musizierens.

  

Chopin: Cellosonate g-Moll op. 63, 3. Satz

Mstilslaw Rostropowitsch, Martha Argerich

1981. Deutsche Grammophon

 

Die Sonate von Chopin, mmh … wer ist es? Das ist Rostropowitsch? Wirklich? Wow!  Ich habe ihn leider nur einmal live gehört mit dem Cello-Konzert von Dvorˇák in Bad Kissingen, damals war ich etwa 18 Jahre alt. Er hat eine besondere Art des Vibratos, sehr schnell, hier nicht so sehr, aber sonst oft, es wirkt immer so als ob er weinte mit dem Cello. Wie hier zum Beispiel: Das kann sehr berührend sein. Wenn ich an Rostropowitsch denke, dann erinnere ich mich natürlich an die Kraft, diesen sehr runden Klang. Aber er hatte auch diese überraschenden Momente der Zartheit: wundervoll! Deshalb habe ich ihn nicht erkannt, denn ich bringe ihn nicht so sehr mit diesem Repertoire in Verbindung.

Carter: Cellokonzert, 1. Satz: Drammatico

Alisa Weilerstein, Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim

2012. Decca

Das Concerto von Carter – das bin ich! Ich erinnere mich daran. … Was soll ich sagen?  Ich habe die Aufnahme seit einer ganzen Weile nicht mehr gehört – und Sie haben mich nicht vorgewarnt … Bei der Einspielung habe ich eine Menge von Maestro Barenboim gelernt: Es ist verblüffend, als Pianist kann er einem viele spieltechnische Details für die Streicher erklären, wie man etwas ausdrucksvoller macht – das ist außergewöhnlich. Er ist fasziniert von den Streichern, weshalb es diesen wunderbaren, großen Barenboimschen Streicherklang gibt wie mit der Staatskapelle Berlin. Es ist wirklich ein unverwechselbarer, sehr expressiver Klang.

Dvorák: Cellokonzert h-Moll, 2. Satz

Christian Poltéra, Deutsches Sinfonieorchester, Thomas Dausgaard

2015. BIS

Ja, Dvorák, Cellokonzert, zweiter Satz… wir warten darauf, dass das Cello eintritt … Mal hören – vielleicht muss ich näher an die Lautsprecher herangehen … nein, ich weiß es nicht … Christian Poltéra? Natürlich kenne ich ihn: Ein wundervoller Cellist!  Christian und ich haben vor einem Jahr zusammen das Streichquintett von Schubert gespielt, beim Delft Chamber Music Festival ist das gewesen, und es hat viel Spaß gemacht. Er ist ein wundervoller Musiker und ein wunderbarer Mensch: Wenn man gemeinsam Musik macht, geht es um Kommunikation und Austausch – und daran glaubt auch er. Er ist genau der Musiker, mit dem man gerne Kammermusik spielen möchte.

Prokofjew: Cellokonzerte e-Moll, 1. Satz

 Alban Gerhardt, Bergen Philharmonieorchester, Andrew Litton

 2009.Hyperion

 

Prokofjew, Sinfonia concertante! Oh, da gab es einen Sprung auf der CD … ach nein, das ist die Urfassung, das Cellokonzert. Dieses Stück wirkt wie ein Bündel Skizzen: Daraus ist später die Sinfonia concertante entstanden. Es ist eine sehr gute Aufnahme, aber ich weiß nicht, wer das Stück überhaupt aufgenommen hat: Das wird sehr selten gemacht. Wer ist es? … Alban Gerhardt?! Ich wusste nicht, dass er die Konzert-Version eingespielt hat, denn ansonsten kenne ich viele seiner Aufnahmen. Ein wunderbarer Cellist!

 Rachmaninow: Vocalise

 Truls Mørk, Jean-Yves Thibaudet

 1996. Virgin Classics

 

Vocalise von Rachmaninow – aber es ist nicht Mischa Maisky, nicht wahr? Nur wer dann? Aha, Truls Mørk – wirklich schön! Und wer ist der Pianist? Jean-Yves Thibaudet… toll! Denn das ist sehr expressiv, aber gleichzeitig hat es eine durchgehende Linie. Viele Leute versuchen bei diesem Stück sehr süß und sehr romantisch zu spielen, aber dann fällt es auseinander. Hier hingegen spürt man einen Sinn für die Struktur: Es ist sehr frei, aber gleichzeitig merkt man, wohin die Musik geht.

Tschaikowsky: Rokkoko-Variationen, Thema

 Sol Gabetta, Münchner RO

 2005.RCA

 

Tschaikowskys Rokoko-Variationen! Es war das erste Stück, mit dem ich öffentlich aufgetreten bin, mit 13 Jahren in Cleveland. Ich habe das Stück sehr oft als Teenagerin gespielt und jetzt auch wieder, zuletzt vor zwei Monaten in Genf.  Aber ich habe überhaupt keine Ahnung, wer hier spielt … es ist eine sehr romantische Interpretation, die Tempi werden ziemlich langsam genommen … Es sind ja Rokoko-Variationen, meine eigene Auffassung dieses Stücks ist eher klassisch, ein bisschen leichter, ein bisschen wie Belcanto – dies ist eine ganz andere Art, dieses Stück zu spielen. Aber es ist tatsächlich sehr schön, nur wer hier spielt: Ich weiß es nicht. … Sol Gabetta, tatsächlich? Es ist großartig!

Album Cover für Chopin & Rachmaninow: Cellosonaten

Chopin & Rachmaninow: Cellosonaten

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