1700 Jahre jüdische Musik in Deutschland | Interview Jean Goldenbaum

„Jüdische Volksmusik war im Deutschland der 1920er-Jahre sehr präsent“

Der in São Paulo geborene Komponist Jean Goldenbaum emigrierte 2005 nach Deutschland und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Europäischen Zentrum für jüdische Musik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Auch seine eigenen Werke beschäftigen sich mit dem Judentum.

© Katharina Dose

Jean Goldenbaum

Jean Goldenbaum

Herr Goldenbaum, wie weit lassen sich die Spuren jüdischer Musik im deutschsprachigen Raum zurückverfolgen?

Jean Goldenbaum: Zuerst müssen wir erklären, was jüdische Musik sein kann, denn das lässt sich nicht allgemeinverbindlich sagen. Menschen haben oft ein falsches Verständnis davon und sitzen Stereotypen auf. Das erste Wort, welches wir in diesem Zusammenhang verwenden ist: Identität.

Und was macht diese Identität aus?

Goldenbaum: Die Musik der jüdischen Welt hat zuallererst eine religiöse Basis. Im synagogalen Gottesdienst wird hauptsächlich gesungen. Man kann jüdische Musik nicht von der jüdischen Liturgie und diese nicht vom jüdischen Leben trennen.

Betrifft das auch die weltliche jüdische Musik?

Goldenbaum: Für viele Jahrhunderte blieben die Juden unter sich. Mit der Zeit setzen sich aber auch jüdische Elemente in der Konzertmusik durch, die eigentlich von einer europäisch-christlichen Geschichte geprägt ist. Im 16. Jahrhundert gab es die ersten jüdischen Komponisten in Italien wie Salomone Rossi. Er war eine große Ausnahme, weil er in der streng katholischen Welt Italiens eine unübliche Freundschaft mit dem König und dem Papst pflegte. Er wurde nicht nur ein bekannter Komponist, sondern schrieb sogar Musik mit jüdischen Themen.

Das war in Italien. Und ab wann kann man in Deutschland von einer jüdischen Konzertmusik sprechen?

Goldenbaum: Da sprechen wir dann über Komponisten der romantischen Zeit wie Giacomo Meyerbeer oder Felix Mendelssohn. Mendelssohn war ja der Enkel eines der größten Philosophen der jüdischen Geschichte: Moses Mendelssohn. Aber sein Vater lässt sich konvertieren und Felix sowie seine Schwester Fanny bekommen eine christliche Erziehung. Die Frage, ob sie trotzdem jüdisch waren, lässt sich nicht mit ja oder nein beantworten. Das hängt vom Standpunkt ab und davon, welche Begründungen man heranzieht: Ethnie, Religion, Tradition, gesellschaftlicher Kontext usw. Ist Mendelssohn Musik also jüdisch? Wenn er zum Beispiel einen Psalm vertont? Der Psalm stammt aus der jüdischen Tradition. Es gibt ihn aber auch im Christentum und im Islam. Sind Mendelssohns Psalmen jüdische Musik? Ja und nein. Sind sie synagogale Musik? Ja und nein. In der orthodoxen Welt werden seine Psalmen nicht gesungen, weil sie auf Deutsch sind. In einer liberalen Gemeinde jedoch werden sie gesungen.

Aber wenn wir streng bei der Musik bleiben, klingt Mendelssohn dann jüdisch?

Goldenbaum: Wir finden in der Musik des 19. Jahrhunderts natürlich keine exotischen Tonleitern, die für uns heute jüdisch und arabisch klingen. Auch Salomone Rossi, der hebräische Texte vertonte und damit synagogale Musik veröffentlichte, klang wie Monteverdi.

Und wie liegt die Sache bei Gustav Mahler, der zum Katholizismus konvertierte?

Goldenbaum: Er musste sich konvertieren lassen, um die Leitung der Wiener Hofoper übernehmen zu können. Das hat also wenig mit seiner Identität zu tun. Seine Sinfonien klingen nicht jüdisch, außer vielleicht der dritte Satz seiner ersten Sinfonie. Aber obwohl Mahler keine liturgische Musik komponiert hat, wird diskutiert, ob er die jüdische Musik repräsentiert, weil er eben ein jüdischer Komponist war.

Schönberg war auch Jude …

Goldenbaum: Aber ist sein Opernfragment „Moses und Aaron“ mehr jüdisch als das Streichsextett „Verklärte Nacht“? Das sind Fragen, die sich nicht eindeutig beantworten lassen. Nehmen Sie das Stück „Kol Nidrei“ von Max Bruch, das auf einem jüdischen Gebet basiert. Aber Bruch selbst war kein Jude. Es gibt also alle Kombinationen: Ein jüdischer Komponist schreibt ein liturgisches Stück. Oder ein jüdischer Komponist schreibt ein nicht-liturgisches Stück mit jüdischem Thema. Oder er komponiert ein Stück, das nichts mit dem Judentum zu tun hat. Oder ein nicht-jüdischer Komponist schreibt ein jüdisches Stück. Das alles gehört zur Welt der jüdischen Musik.

Zurück zur Eingangsfrage: Wo finden wir die frühesten Spuren jüdischer Musik im deutschsprachigen Raum?

Goldenbaum: Wir wissen erst seit dem 19. Jahrhundert, was in früheren Jahrhunderten in jüdischen Gottesdiensten gesungen wurde. Vor 2000 Jahren hatten die liturgischen Schriften keine Musiksymbole, obwohl auch damals schon gesungen wurde. Jahrhunderte später kommen die Symbole, obwohl diese Notationen nicht sehr genau sind. Und was die Volksmusik betrifft, gibt es lange Zeit genauso wenige schriftliche Quellen bei den Juden wie bei anderen Völkern.

Anfang des 20. Jahrhunderts setzt dann eine Rückbesinnung der Juden auf ihre Identität als Volk ein …

Goldenbaum: Das hat viel mit Politik und der hebräischen Sprache zu tun. Es gibt die ersten zionistischen Kongresse. Die Musik bekommt ein neues Gesicht und spielt eine neue Rolle. Ab 1948 gibt es die israelische Musik. Aber auch vor dem Holocaust wurden im deutschsprachigen Raum viele Lieder auf Hebräisch und Jiddisch gesungen. Jüdische Volksmusik war im Deutschland der 1920er-Jahre sehr präsent. Das haben meine Großeltern mir erzählt.

Sind Sie mit jüdischer Musik aufgewachsen?

Goldenbaum: Ja, einer meiner Großväter war Chasan, ein orthodoxer Kantor. Interessanterweise war er eigentlich nicht musikalisch und kein guter Sänger. Als Kind habe ich mich darüber gewundert. Später habe ich verstanden: Rabbiner und Kantoren, die keine musikalische Begabung haben, sind nicht unüblich. Mein anderer Großvater war sehr liberal und Gründer der liberalen jüdischen Gemeinde in São Paulo, wo ich geboren bin. In dieser Synagoge gab es ganz andere Musik, mit brasilianischen Elementen und Instrumentalbegleitung, was bei den Orthodoxen verboten ist.

Als Musikwissenschaftler haben Sie sich auch mit dem jüdischen Tango beschäftigt. Der Tango ist also keine argentinische Erfindung?

Goldenbaum: Man kann über den argentinischen Tango von Astor Piazzolla oder Carlos Gardel nicht ohne die jüdischen Einflüsse aus Polen, der Ukraine und den slawischen Ländern sprechen. Auch die typische Musik vieler europäischer Länder ist von jüdischer Musik beeinflusst wie der portugiesische Fado, bei dem noch der arabische Einfluss hinzukommt.

Sprechen wir noch über Ihre Tätigkeit als Komponist. Würden Sie sagen, Sie schreiben jüdische Musik?

Goldenbaum: Ja. Meiner Meinung nach ist das Werk eines jüdischen Komponisten in dieser Hinsicht bereits jüdische Musik. Genauso wenig kann ich mein Werk von der brasilianischen Tradition trennen. Ich habe liturgische Musik geschrieben, die in der orthodoxen Synagoge gesungen werden kann. Ich habe Stücke mit Instrumentalbegleitung auf Hebräisch und in anderen Sprachen über die jüdische Liturgie geschrieben. Die sind also nur für liberale Synagogen geeignet. Ich habe aber auch Stücke komponiert, die über die jüdische Religion sprechen, aber nicht liturgisch sind. Manchmal greife ich auch ein kulturelles Thema des jüdischen Lebens auf wie in meinem Werk „Tzedakah“, das bedeutet „soziale Gerechtigkeit“.

Sie bezeichnen Ihre Musik als Ihre „Mission“. Was meinen Sie damit?

Goldenbaum: Ich bin politisch sehr engagiert, und das spiegelt sich auch in meiner Musik wider. Sie ist nicht bloß zur Unterhaltung gedacht, sondern soll eine gesellschaftliche Funktion haben im Sinne eines sozialen Aktivismus. Sie hat die Mission, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie Menschen sich durch Musik ändern können. Darüber hinaus greife ich aber auch religiöse und philosophische Themen auf.

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