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1700 Jahre jüdische Musik in Deutschland | Interview Julia Grossmann

„Jetzt ist meine Generation an der Reihe“

Julia Grossmann, die Gründungsdirektorin des Jewish Chamber Orchestra Munich, über die Vermittlung jüdischer Kultur in Deutschland, Schnittstellen zwischen Tradition und Religion – und über ein Jubeljahr, in dem trotz Corona viel erreicht werden kann.

vonMaximilian Theiss,

Es ist nicht leicht, in einer Stadt mit so vielen hochklassigen Orchestern zu bestehen. Dennoch gründete der Dirigent Daniel Grossmann 2005 das Jewish Chamber Orchestra Munich – und schuf damit einen Klangkörper, der das kulturelle Leben in der bayerischen Landeshauptstadt mitprägt und gleichzeitig das Judentum in München sicht- und hörbar macht. Inzwischen hat das Orchester auch europaweite Bekanntheit erlangt.

Seit etwa fünfzehn Jahren hat die Münchner jüdische Gemeinde am Jakobsplatz ein großes Zentrum mit Synagoge, Gemeindehaus und Versammlungsräumen. Zuvor fristete sie lange Jahre ein Dasein im Hinterhof. Damals wollte Ihr Sohn Daniel Grossmann das jüdische Leben aus diesem auch sprichwörtlichen Hinterhof raus zu den Menschen bringen und gründete gemeinsam mit Ihnen das Jewish Chamber Orchestra Munich, damals noch unter dem Namen Orchester Jakobsplatz München. Wie weit sind Sie, sechzehn Jahre nach der Gründung des Klangkörpers, mit diesem Vorhaben gekommen?

Julia Grossmann: Sehr weit. Unter unseren Konzertbesuchern nehme ich ein sehr großes Interesse an jüdischer Kultur und jüdischen Menschen wahr. Daher glaube ich auch, dass wir nicht nur musikalisch, sondern gesellschaftspolitisch einen Beitrag geleistet haben. Wir haben auch von Anfang an ein Verhältnis zu unserem Publikum und Freundeskreis aufgebaut, das nicht auf dieser Opfer-Täter-Grundlage fußt.

Ist dieses Opfer-Täter-Denken abhängig von der jeweiligen Generation – oder anders gefragt: Sehen Sie bei den Jüngeren eine Veränderung in diesem Denken?

Grossmann: Ich glaube schon. Wobei das auch gefährlich werden kann: Die Schuld ist eine Sache, Verantwortung aber eine andere. Es ist keine gute Entwicklung, wenn Menschen sagen, sie hätten mit all dem nichts zu tun. Ich selbst entstamme sozusagen der zweiten Generation. Mein Vater ist damals im Konzentrationslager Mauthausen befreit worden. In seinen letzten Lebensjahren hat er vielen jungen Menschen davon erzählt. Als er vor sieben Jahren gestorben ist, wurde mir klar: Jetzt ist meine Generation an der Reihe, um das jüdische Erbe weiterzutragen, also die Generation, die den Holocaust nicht mehr erlebt hat. Dieses Orchester ist sozusagen mein Beitrag dazu, dass man Juden wahrnimmt als Teil unserer Gesellschaft in Deutschland und nicht mehr nur als Opfer. Natürlich klammern wir in unserer Orchesterarbeit den Holocaust nicht aus und spielen Werke von verfolgten, vertriebenen und ermordeten Komponisten. An die wollen wir erinnern, wir wollen ihnen Bekanntheit verschaffen: als Menschen, die etwas geschaffen haben, und zwar außerhalb ihres Schicksals als Opfer.

Im orchestereigenen YouTube-Kanal findet sich die Reihe „Jüdische Identitäten“, Sie selbst haben eben von jüdischer Kultur gesprochen. Es fehlt noch der Begriff „jüdische Religion“.

Grossmann: Das führt zur Frage, was es heißt, jüdisch zu sein, wenn man nicht religiös lebt. Unser Orchester jedenfalls ist keine religiöse Institution. Die Musiker sind ja auch mehrheitlich keine Juden. Wir sind eine kulturelle Institution, die jüdische Kultur an den Menschen bringen will, was natürlich zwangsläufig mit Religion verwoben ist. Aber wer als Christ Weihnachten feiert, tut dies auch nicht zwangsläufig im religiösen Sinne: Es ist ein Familienfest! Solche Feste, ganz gleich welcher Religion, haben mit Tradition zu tun …

Julia Grossmann
Julia Grossmann

… wie die Kantorenkonzerte zum jüdischen Neujahrsfest, die ein jährliches Highlight in der Saison des Jewish Chamber Orchestra darstellen.

Grossmann: Kantorenkonzerte haben in Amerika und Israel eine große Tradition und sind dort ganz normale Konzerte wie bei uns beispielsweise ein Beethoven-Konzert. Unsere Idee war, die Kantorenkonzerte als Neujahrskonzerte zu spielen. Das ist zum Beispiel auch eine Schnittstelle zur Religion: Normalerweise werden die synagogalen Lieder in Synagogen gesungen – ohne Orchester, das ist dort nicht erlaubt. Bei uns singen die Kantoren diese Lieder dann auf der Konzertbühne, auf der auch unser Orchester sitzt. Diese Neujahrskonzerte werden hier in München unglaublich angenommen, das Prinzregententheater ist dann immer ausverkauft, die Leute singen und klatschen mit, kennen auch inzwischen die Bräuche und Traditionen – dass zum Beispiel in der Pause Apfel mit Honig angeboten wird.

Was steckt hinter diesem Brauch?

Grossmann: Man taucht den Apfel in Honig und wünscht einander „schana tova“: „ein gutes, süßes neues Jahr“. Mittlerweile sagen das die Konzertbesucher, die mehrheitlich keine Juden sind, schon von sich aus. Das erfüllt mich mit sehr viel Wärme und Freude, weil wir genau das erreichen wollen. Um mehr geht es nicht: dass die Menschen wissen, jetzt haben Juden Neujahr und jetzt wünsche ich denen „schana tova“.

2021 feiern wir das Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Was erhoffen, was erwarten Sie sich von diesem Jahr?

Grossmann: Das ist für mich so wie das Beethoven-Jahr, dass das nämlich wegen Corona so ein bisschen ins Wasser fällt. Aber vielleicht können wir in der zweiten Jahreshälfte mehr Veranstaltungen zu diesem Jubiläum genießen. Es ist eine wunderbare Idee, obwohl ich mehrmals den Einwand gehört habe, dass es in diesen 1700 Jahren ja einige Unterbrechungen jüdischen Lebens gab. Aber ich finde es einfach eine schöne Zahl, da muss man doch nicht groß nachzählen! Für mich steckt hinter diesem Jubiläum die Aussage, dass es eine lange Geschichte der Juden in Deutschland gibt. Und wenn dadurch die Menschen mehr über das Judentum oder jüdische Menschen erfahren, wenn uns immer mehr Menschen „schana tova“ wünschen, wenn Ängste und Vorbehalte abgebaut werden, dann ist auch in diesem Corona-Jahr viel gewonnen.

Wie intensiv waren denn Ihre Vorbereitungen für dieses Jahr? Aufgrund der programmatischen Ausrichtung des Jewish Chamber Orchestra mussten Sie da vermutlich gar nicht anders planen als sonst.

Grossmann: Das habe ich auch immer gesagt (lacht). Und wir müssen nur auswählen aus dem, was wir in den Jahren zuvor schon gemacht haben. Aber wir haben uns natürlich schon überlegt, was man zu diesem Anlass machen kann, was wir sonst nicht machen würden. Das ist zum Beispiel unser Festkonzert im Gasteig diesen Sommer mit den wunderbaren Sängerinnen Chen Reiss und Talia Or. Das wird deutschlandweit eine der größten Veranstaltungen zu diesem Jubiläum sein. Wir wollen auch wieder wie im letzten Jahr eine Tournee durch die Landsynagogen machen, also an ganz unbekannten, kleinen Orten spielen, die restauriert wurden und für die die Menschen ein großes Interesse haben. Schauen wir mal, ob das alles möglich sein wird in diesen Pandemiezeiten.

Es gibt also viel zu tun.

Grossmann: Aber wir konnten die konzertfreie Zeit auch sehr gut nutzen für Projekte, die wir schon länger geplant haben, etwa den Ausbau unseres YouTube-Kanals, der weltweit auf großes Interesse stößt. Es ist uns auch wichtig, dass die Menschen auf der ganzen Welt erfahren, dass es hier in München ein professionelles deutsch-jüdisches Orchester gibt.

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