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Opern-Kritik: Theater Braunschweig – Europeras 1 & 2

Die Macht des Zufalls

(Braunschweig, 25.11.2017) Mit John Cages „Europeras I und II“ ist eines der umstrittensten Musiktheaterwerke der neueren Geschichte erstmals an einem mittleren Theater zu bestaunen

vonReinald Hanke,

Am Staatstheater Braunschweig ist es Tradition, dass ein Generalintendant verantwortlich zeichnet für alle Sparten des Theaters, den Spartenleitern aber beträchtliche Teilkompetenzen überlässt. Für das Musiktheater funktionierte das in der Ära Wolfgang Groppers als Intendant recht gut. Sein Nachfolger Joachim Klement hat nach dem Weggang des hervorragenden Chefdirigenten Alexander Joel jahrelang keinen Nachfolger ans Haus geholt. Die Folge für die Braunschweiger Oper war, dass nach Alexander Joel die krude Mischung aus aufwendigen, aber wenig ambitionierten Musicals, reichlich fragwürdigen Raritäten und wenigen Standardwerken in extrem unterschiedlichen Inszenierungen und nicht selten schwachen musikalischen Einstudierungen die Oper und das Orchester in keinem guten Licht erscheinen ließen. Nun sollte, wenngleich unausgesprochen, unter der neuen Intendantin Dagmar Schlingmann alles anders werden. Und tatsächlich: Ihre erste Musiktheaterspielzeit ist bislang auf bemerkenswerte Weise gelungen.

Alle Grenzen sprengende Performance

Die neue Generalintendantin und ihre Opernchefin Isabel Ostermann sowie Chefdirigent Srba Dinic haben nach der ambitionierten und fast rundweg gelungenen Produktion von Verdis „Don Carlos“, einer handwerklich sehr gut gearbeiteten und dabei publikumsfreundlichen Inszenierung von Humperdincks „Hänsel und Gretel“ und einer kleinen, aber beachtlich profiliert gestalteten Produktion des neuen Stückes von Lucia Ronchetti, „Rivale“, nun eines der umstrittensten Musiktheaterwerke der neueren Geschichte ins Programm genommen: John Cages „Europeras I und II“, ein Stück, das die Geschichte der Oper zum Teil einer grenzsprengenden Performance macht, die alle Gattungen und alle Kunstbegriffe in Frage stellt.

Geplante Verrücktheit

Als das Stück vor fast genau 30 Jahren kurz vor der Uraufführung stand, brannte – welch bittere Ironie – das die Premiere gerade vorbereitende Opernhaus in Frankfurt wenige Tage vorher aus. Brandstiftung. Der sich zu diesem Zeitpunkt im Haus befindliche Komponist konnte sich rechtzeitig in Sicherheit bringen. Vier Wochen später ging dann die weltweit beachtete Uraufführung im benachbarten Frankfurter Schauspielhaus über die Bühne. Cage selbst hatte die szenische Arbeit an diesem Stück, das mehr Performance als Musiktheateraufführung darstellt, geleitet. Das Ergebnis geriet gleichermaßen Faszination wie Verständnislosigkeit auslösend. Heute sind solche Formen von Musiktheater, in denen weder über Musik noch über Sprache eine Geschichte erzählt wird, nicht mehr ganz so ungewöhnlich. Nichtsdestotrotz ist das Konzept dieses Stückes nach wie vor einzigartig geblieben in seiner Radikalität und Konsequentheit einerseits, in seiner geistigen Leichtigkeit und seinem durch ironische Brechungen geprägten Humor andererseits.

Szenenbild aus "Europeras"
Europeras/Staatstheater Braunschweig © Thomas M. Jauk

Da stehen lauter Sänger auf der Bühne, die im falschen Kostüm die falschen Texte und gleichzeitig mit falschen Bewegungen bekannte Passagen aus allerlei Opern singen. Und das alles ist genau so gewollt und so konzipiert, dass der Abend durch vom Komponisten eingeplante, aber nicht zu kalkulierende Zufälle jedes Mal anders gelenkt wird als das an den anderen Tagen der Aufführung dieses Stückes der Fall war. Somit ist jede Aufführung in ihrer Gesamtheit musikalisch ähnlich, im konkreten Ablauf aber komplett unterschiedlich, denn die Musiker entscheiden selbst, wann sie in einem festgelegten Rahmen welches Zitat spielen oder singen. Oder sie werden zu bestimmten musikalischen Aktionen von einer gnadenlos objektiv waltenden Uhr getrieben.

Szenisch des Guten zu viel

Cage hatte das seinerzeit durch eine sehr reduzierte und auf den Punkt gebrachte szenische Ironie auf die Bühne gebracht. In der Konzentration und der ästhetischen Klarheit gelang ihm damals eine faszinierende Aufführung. In Braunschweig hat man nun den gegenteiligen Weg bestritten, die Vorlage nicht konzentriert, sondern im Gegenteil durch viel eigene Fantasie erweitert, um „Europeras“ auf ganz andere Art auf die Bühne zu bekommen. Man bereicherte das ganze Geschehen noch durch eine Inszenierung, in der immer zig Dinge gleichzeitig passieren, die verrücktesten Tierfiguren und Opernrequisiten und Bühnenbildteile in Kommunikation mit einander treten und zusätzlich noch mit Projektionen überlagert werden, die Bezug nehmen auf die vielen Opern, auf die Cage anspielt. Das Stück heißt nicht von ungefähr „Europeras“: Es geht um ein wesentliches Kulturgut Europas, eben um „unsere Opern“, auf englisch „your operas“.

Szenenbild aus "Europeras"
Europeras/Staatstheater Braunschweig © Thomas M. Jauk

Regisseurin Isabel Ostermann hat Cages „Europeras I“ sehr ernst genommen, aber manchmal dann doch zu viel auf die Bühne gebracht und das Ganze mit zu wenig Humor und Ironie abgefedert. Trotzdem ist dieser Abend eine faszinierende Arbeit, wenngleich eine mit gewissen Längen im ersten Teil. „Europeras II“ nach der Pause funktioniert viel besser. Eine in jeder Hinsicht einzigartige Aufführung. Bleibt zu hoffen, dass viele Opernfreunde nach Braunschweig fahren, denn die Braunschweiger selbst dürften mit dieser Art Musiktheaterkunst erfahrungsgemäß ihre Probleme haben. Alle Achtung, dass Intendantin Dagmar Schlingmann den Mut zu einer solchen Produktion aufgebracht hat. Betrachtet man die Premieren der letzten Zeit und die weiteren Planungen für diese Saison meldet sich dieses Haus hiermit wieder zurück in den Kreis der ernst zu nehmenden Musiktheaterbühnen Deutschlands. Man darf gespannt sein auf den weiteren Verlauf der Spielzeit.

Staatstheater Braunschweig
Cage: Europeras I & II

Christopher Lichtenstein (Leitung), Isabel Ostermann (Regie), Corinna Gassauer (Ausstattung), Sarah Grahneis (Dramaturgie), Jelena Banković, Nana Dzidziguri, Ivi Karnezi, Jelena Kordić, Maximilian Krummen, Ekaterina Kudryavtseva, Carolin Löffler, Ernesto Morillo, Vincenzo Neri, Matthias Stier, Milda Tubelytė, Eugene Villanueva, Staatsorchester Braunschweig

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