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Opern-Kritik: Berliner Festspiele – Einstein on the Beach

Archaisch, kommunikativ, virtuell

(Berlin, 30.6.2022) Für die Suche nach dem virtuellen Paradies erweist sich der Fast-Klassiker von Philip Glass und Robert Wilson als steile Vorlage, die Susanne Kennedy und Markus Selg für ihre Vision eines posthumanistischen Theaters für physisches Publikum perfekt nutzen.

vonRoland H. Dippel,

Philip Glass‘ mit Robert Wilson für das Festival von Avignon 1976 kreierten Fast-Klassiker „Einstein on the Beach“ erweiterten Susanne Kennedy und Markus Selg in Zusammenarbeit mit Rodrik Biersteker im linken Seitenflügel des Hauses der Berliner Festspiele um ihre VR-Show „I AM (VR)“. Die Vision eines posthumanistischen Theaters für physisches Publikum ist hier verknüpft mit Glass‘ ausgedehnter Minimal Opera in vier Akten. Eine Frage steht über der Koproduktion des Theaters Basel, der Berliner Festspiele und der Wiener Festwochen: Wie könnte ein Paradies aussehen für Menschen, welche ihren Naturbezug im zunehmend apokalyptischen Anthropozän abstreifen, den Zustand digitaler Avatare aber noch nicht erreichen? Kennedy und Selg nennen ihre Projekte auf Kampnagel und zur Ruhrtriennale zum Beispiel „Psychedelische Virtual Reality Performance über die Untiefen der menschlichen Sehnsucht“.

Erlösungsangebot mit Kanten und Verzückungen

Der Transhumanismus hat es ihnen besonders angetan. Hinter der ornamentalen und szenischen Verspieltheit ihrer Visionen ist es eiskalt. Kennedy und Selg erfanden für Glass‘ erste Oper mit dem irreführenden Titel ein schillerndes Riesen-Tableau und Reminiszenzen an vormoderne Robinsonaden. Sie fütterten das freischwingende Musikgerüst mit ihrer Erzählung aus einer Zukunft mit archaischen Bildern. Das Publikum begibt sich in den begehbaren Bühnen-, Zuschauer- und Geistesräumen auf eine dreieinhalbstündige Wanderung, es begegnet sogar von Tänzern gespielten Androiden. Ein Mittel gegen diese phantastische Verführung wären eigenwillig gesetzte Pausen in der Abendsonne draußen – oder die Konzentration auf die aggressiven Akzente der suggestiven Musik drinnen. Der Dirigent André de Ridder forciert im knallharten Zählen der instrumentalen Figuren das mit Keyboards stark bestückte Ensemble Phoenix Basel. Das scharfe bis aggressive Sounddesign macht den Abend zum esoterischen Erlösungsangebot mit Kanten und Verzückungen.

Szenenbild aus Philip Glass' „Einstein on the beach“
Szenenbild aus Philip Glass› „Einstein on the beach“

Erlebnissprünge: Esoterik, Schamanismus, Virtualität

Kein Wunder, dass Paare im Publikum näher zusammenrücken. Schwelgen und Härten sind immer eng beieinander. Mit „Beach“ hat Glass‘ Musiktheater weitaus mehr zu tun als mit „Einstein“. Spieler des solistischen Violinparts sollten eigentlich mit einer an die weiße Mähne des Physikgenies Albert Einstein erinnernden Perücke auftreten. Aus den von Cornelius Hunziker mit Stirnlämpchen und in Sportdresses auf alt bis schmutzig getrimmten Basler Madrigalisten schält sich hier die Geigerin Diamanda Dramm heraus: Glatze, olivfarbene Maske, auf der Stirn ein rundes Stammesemblem und fast androgyn. Unter Leitung von Raphael Immoos singen die Basler Madrigalisten Glass‘ Silben- und Ziffernreihen mit einer für Experten der Alten Musik typischen, präzisionsfanatischen Inbrunst und Hartnäckigkeit. Sie stehen oft in Reihe und tragen transparenten Sichtschutz. Sie verschenken keinen Ton und machen doch nicht besser verstehen, um was es in Glass‘ und Robert Wilsons Textbuch geht. Die Solostimmen singen von einem Boot, das kommen wird. Und vielleicht kommt sogar ein gewisser Franky. Der Strand ist also die metaphorische Grenze zwischen dem gehärteten Rationalismus des Festlandes und dem alles vereinigenden Ozean. Wie schön ist dieses Paradies auf der langsam drehenden Bühne mit dem nach Indiana Jones duftenden Abenteuer aus uralten Comicheftchen, die vor langer Zeit unter Grundschülern beliebte Tauschobjekte waren.

Violinistin Diamanda Dramm in Philip Glass' „Einstein on the beach“
Violinistin Diamanda Dramm in Philip Glass› „Einstein on the beach“

Das performative Abenteuer riecht nach Indiana Jones

Teresa Vergho bietet den vom Zuschauerraum auf die Bühne und zurück in den Saal drängenden Menschen stoffgepolsterte Dekofelsen zum Sitzen und Chillen. Um den Tierschädel auf einer Altarstelle geht es versonnen und leger zu. Ein bemooster Plastikkanister wird zur symbolträchtigen Projektion. Die Entspannungsangebote dieses virtuellen Arkadien ähneln denen urbaner Clubs. Sanft wiegen sich die Tanzenden – dazu sprossen in Videos Farne aus Farbtönen aller Jahreszeiten. Imposant sind für das Publikum von allem die begehbaren Flecken auf der Bühne. Die Illusionen funktionieren für den Zuschauerraum und alle Positionen auf der Bühne. Kennedy und Selg nennen ihr Konzept ein „hypnotisches Tableau“. Sie haben sich zur dramatischen Neutralität von Glass‘ Oper viel ausgedacht. Deren Musik wirkt – obwohl nur sieben Jahre jünger als Pendereckis „Die Teufel von Loudun“ vor wenigen Tagen im Nationaltheater München – weitaus aggressiver, obsessiver und verletzender. Solisten des Ensembles Phoenix Basel wechseln aus der platzsparenden Orchestergraben-Fläche an die Bühnen-Seite. Klänge bedrängen und vertreiben einige Premierengäste. Aber wer ihn möchte, bekommt den faszinierenden Glass-Taumel. Schön sind die Bilder dazu alle. Kennedy und Selg saugen wie kreative Vampire die Dramatik aus dem Stück und ziehen das Publikum in ihre prä-post-zivilisatorische Apokalypse.

Szenenbild aus Philip Glass' „Einstein on the beach“
Szenenbild aus Philip Glass› „Einstein on the beach“

Besser als jede Toscana-Therapie

Parallel läuft im Haus der Kulturen der Welt das Projekt „Earth Indices – Die Verarbeitung des Anthropozäns“ von Giulia Bruno & Armin Linke. Auch „Einstein on the Beach“ träumt hier von einer physisch-vegetativen Existenz in der virtuellen. Den Menschen aus Fleisch und Psyche scheint diese Zukunftsmöglichkeit so gut zu gefallen wie früher die postmortalen Utopien vom Paradies, den Elysischen Gefilden oder von den Seelen bei den Engeln im Himmel. Das virtuelle Glück kann so nah sein, wenn die technisch-künstlerischen Mittel zu dessen Sichtbarmachung immer perfekter werden. Ein solches Paradies ist besser als jede Toscana-Therapie.

Berliner Festspiele / Wiener Festwochen / Theater Basel
Philip Glass und Robert Wilson: Einstein on the Beach

André de Ridder & Jürg Henneberger (Leitung), Raphael Immoos (Einstudierung Basler Madrigalisten), Susanne Kennedy & Markus Selg (Konzept), Susanne Kennedy (Regie), Markus Selg (Bühne), Teresa Vergho (Kostüme), Cornelius Hunziker & Richard Alexander (Lichtdesign), Andi Toma (Sound Design), Robert Hermann (Klangregie), Rodrik Biersteker & Markus Selg (Videodesign), Meret Kündig (Dramaturgie), Ixchel Mendoza Hernández (Choreografie), Suzan Boogaerdt, Tarren Johnson, Frank Willens, Tommy Cattin, Dominic Santia, Ixchel Mendoza Hernández (Performance/Tanz), Diamanda Dramm (Solo-Geige), Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Emily Dilewski (Solo-Sopran), Nadja Catania, Sonja Koppelhuber (Solo-Alt), Viviane Hasler, Anna Miklashevich, Viola Molnàr (Sopran), Schoschana Kobelt, Leslie Leon, Barbara Schingnitz (Alt), Daniel Issa, Patrick Siegrist, Christopher Wattam (Tenor), Tiago Mota, Breno Quinderé, Othmar Sturm (Bass), Basler Madrigalisten Ensemble Phœnix

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