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Interview Tomáš Netopil

„Die Musik muss uns etwas mitzuteilen haben“

Der tschechische Dirigent Tomáš Netopil verabschiedet sich in dieser Saison aus Essen mit einer Uraufführung.

vonChristian Schmidt,

Er gilt als einer der vielseitigsten Dirigenten seiner Generation: Seit Tomáš Netopil 2002 mit 27 Jahren den ersten Solti-Dirigentenwettbewerb gewann, ist der 46-Jährige weit über sein Heimatland hinaus ein gefragter Spezialist für die böhmische und andere slawische Musik. Er kennt sich aber ebenso gut mit Mozart, Wagner und Strauss aus. Seit 2013 ist er Generalmusikdirektor der Essener Philharmoniker. Die Zusammenarbeit gibt er jedoch nach der nächsten Spielzeit im Sommer 2023 auf, um mehr Freiheit für Gastengagements zu haben. Im Interview erzählt der folklorebegeisterte Tscheche über seine historischen Wurzeln, die Qualität böhmischer Musik und die Notwendigkeit, sich für zeitgenössische Musik zu engagieren.

Herr Netopil, Ihre letzte Saison in Essen steht bevor. Wie fällt bisher Ihre Bilanz aus?

Tomáš Netopil: Es ist natürlich schade, dass die Corona-Pandemie in anderthalb Jahren einiges verhindert hat, was wir geplant hatten. Dafür freue ich mich sehr, dass wir unseren vielschichtigen Mozart-Opern-Zyklus mit „Figaros Hochzeit“ fortsetzen können. Es war mir wichtig, dem Orchester viel von diesem Mozartstil nahezubringen. Genauso wichtig ist mir die slawische Linie von Janáček über Martinů bis Tschaikowsky. Darüber hinaus habe ich viel Strauss und Wagner gemacht.

Das zeigt nochmal Ihre ganze sehr ungewöhnliche Vielseitigkeit. Wie haben Sie sich die erworben?

Netopil: Mein Herz gehört natürlich der böhmischen Tradition, aber mich hat am Anfang auch Mozart sehr beschäftigt. Dieser Klassizismus ist nicht einfach und braucht eine gewisse Spezialisierung. Ich bin ja auch Geiger und versuche, diesen Stil zu kultivieren. Schon in der ersten Spielzeit haben wir hier historische Instrumente eingeführt, aber es braucht natürlich eine gewisse Zeit, bis man die Technik erarbeitet hat. Das hilft enorm.

Trotzdem nochmal die Frage: Wie wird man zu so einem Allrounder wie Sie?

Netopil: Für mich ist das alles einfach Musik zwischen Rameau und Moderne – wichtig ist nur, dass sie uns etwas mitzuteilen hat. Ich versuche dann immer, das Besondere daran zu finden. Unsere Aufgabe muss es immer sein, Partituren neu und authentisch zu lesen, ohne uns um überkommene Gewohnheiten zu scheren. Referenzen alter Aufnahmen sind da nicht unbedingt maßgeblich.

Sie sind in der tschechischen Provinz aufgewachsen.

Netopil: Ich komme aus Kroměříž (Kremsier), einer Kleinstadt mit historischem Zentrum, in der übrigens Amadeus gedreht wurde. Da gibt es ein wunderschönes Schloss und eine barocke Musikbibliothek, in der wichtige historische Werke aufbewahrt werden. An diesem Konservatorium habe ich zuerst Unterricht genommen, bevor ich nach Prag zum Studieren ging, und hier wohne ich auch heute noch. Die Musik war seit meiner Kindheit sehr präsent, meine Mutter pflegte den Jazzgesang, mein Vater war Amateurgeiger und begeisterte mich für das Instrument.

Böhmen hat eine große folkloristische Tradition. Heute ist die Musikwelt mehr und mehr globalisiert. Ist dadurch von der Ursprünglichkeit der Volksmusik etwas verloren gegangen?

Netopil: Nein, die Tradition ist bei uns sehr lebendig geblieben, es gibt viele Festivals, auf denen diese Volksmusikkultur weiter gepflegt wird. Auch unsere tschechischen Nationalkomponisten werden kontinuierlich hoch geschätzt. Teilweise gibt es auch heute noch zeitgenössische Komponisten, die diese Inspirationsquelle weiterhin nutzen.

Sie engagieren sich sehr stark für diese Musik. Ist sie nur gut und einfach noch immer zu unbekannt, oder hat das auch einen patriotischen Impetus?

Netopil: Alles zusammen. Ich bin ein großer Patriot, aber die Musik ist auch wirklich gut. Zum Beispiel funktioniert Janáček auch außerhalb von Tschechien sehr gut, weil er die Sprache, die keiner versteht, in Musik übersetzt hat, die universell verständlich ist. Das ist ein großer Zauberer. Vor einigen Jahren haben wir die sinfonische Musik von Josef Suk neu entdeckt, deren spätromantischen Sog ich dem von Gustav Mahler als gleichwertig bezeichnen möchte.

„Wir müssen unsere Zeit mit neuer Musik reflektieren“: Tomáš Netopil
„Wir müssen unsere Zeit mit neuer Musik reflektieren“: Tomáš Netopil

Wie kommt das beim Essener Publikum an?

Netopil: Publikum und Orchester waren gleichermaßen begeistert, weil die böhmische Musik einfach sehr natürlich fließt, da ist nichts Gestelztes, Überformtes dabei. Sie wirkt sehr freundlich und dabei nicht zu kompliziert.

2002 haben Sie den Solti-Wettbewerb gewonnen. War das die Initialzündung für Ihre Karriere?

Netopil: Ganz klar, ja. Gerade für Dirigenten ist es sehr schwierig, wirklich eine große Karriere zu beginnen. Ich hatte einige Krisen vorher, bei denen ich befürchten musste, dass es nicht funktionieren wird. Aber für mich war das tatsächlich ein Glücksfall, auch wenn ich Wettbewerbe in der Musik eigentlich unsinnig finde: Wie wollen Sie schon musikalischen
Leistungen eine Rangordnung geben? Aber so funktioniert unsere Welt.

Wie viel Glück gehört dazu?

Netopil: Ohne geht es nicht. Ich bin dankbar für jeden Tag.

Was würden Sie heutigen Dirigierstudenten sagen? Lohnt es sich noch? Immerhin hat die Pandemie existenzielle Motivationsprobleme evoziert.

Netopil: Ich habe im letzten Jahr eine international besetzte Meisterklasse geleitet, eine Woche vor einem der Lockdowns. Im Stillen dachte ich: Oh Gott, es ist so schwer für sie! Aber ich habe die Energie dieser Studenten erlebt und war beeindruckt, weil sie trotzdem ihren Mut nicht verloren haben. Von vielen habe ich inzwischen gehört, dass sie gute Positionen gewonnen haben, was mich natürlich besonders freut. Wer es wirklich will, dem würde ich weiterhin unbedingt zuraten.

Wie stark hat Sie die Pandemie in Essen getroffen?

Netopil: Wir haben recht schnell reagiert, die Dramaturgie geändert und eher kleinere Opern gemacht. Darüber hinaus konnten wir einige Konzerte streamen. Ohne Publikum ist das natürlich alles sehr komisch, aber wir hatten trotzdem sehr schöne Abende.

Haben Sie schon einen Plan für Ihre Zeit nach Essen?

Netopil: Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir einen Termin für das nächste sinfonische Projekt mit den Essener Philharmonikern gefunden haben – wir werden also auch zukünftig gemeinsam musizieren. Darüber hinaus bleibe ich ständiger Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie und werde international mehr gastieren. Auch weiterhin möchte ich Opern einstudieren, allerdings nicht wie zuletzt fünf oder sechs Produktionen pro Jahr.

Ein Höhepunkt am Schluss der kommenden Saison ist die Uraufführung von „Dogvilleaus der Feder Gordon Kampes nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier. Was ist so spannend an dem Stück?

Netopil: Die Geschichte, ein psychologisches Drama, ist tatsächlich sehr stark. Das Sujet funktioniert sehr gut in der Oper. In einem unserer Konzerte konnten wir schon eine Suite aus der Oper aufführen. Diese sehr rhythmische Musik, die nicht zu kompliziert, sondern sehr logisch aufgebaut und durchaus verständlich ist, passt sehr gut zu diesem Stoff. Mir war es sehr wichtig, neben dem traditionellen Repertoire auch die neue Musik zu fördern und ein eigenes Stück in Auftrag zu geben.

Empfinden Sie eine Verantwortung für zeitgenössische Komponisten?

Netopil: Das ist auf jeden Fall unsere Aufgabe. Wir müssen unsere Zeit mit neuer Musik reflektieren und die Operngeschichte weiterschreiben, das ist doch existenziell!

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