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Interview Ksenija Sidorova

„Das Akkordeon hat sich in der Klassik etabliert“

Ksenija Sidorova über das Akkordeon als „Instrument des Jahres“, die Vielfalt des Repertoires und wieso es sich bestens für Anfänger eignet.

vonJan-Hendrik Maier,

Das „Jahr der Stimme“ neigt sich dem Ende zu. Für 2026 hat der Deutsche Musikrat das Akkordeon als „Instrument des Jahres“ auserkoren. Zu den weltweit renommierten Solisten zählt die Lettin Ksenija Sidorova. Bevor sie sich zum Komponisten Fazıl Say aufmacht, um ihm detailliert die Feinheiten ihres Instruments zu erklären, schaltet sich die 37-Jährige frühmorgens aus Istanbul zum Interview.

„Kaum ein Instrument ist stilistisch derart offen“, heißt es in der offiziellen Begründung. Was zeichnet für Sie das Akkordeon aus?

Ksenija Sidorova: Wo immer ich auf der Welt hinkomme, treffe ich Menschen, die auf die eine oder andere Weise mit dem Instrument verbunden sind, etwa weil sie Verwandte haben, die Akkordeon spielen, oder ihre Großmutter noch eines im Schrank stehen hat. Es ist in vielen Ländern bekannt und begleitet die Menschen in Freude und Leid. Man kann damit Melodien spielen, aber auch ein Lied begleiten. Noch dazu ist es einfach zu transportieren. Ich nenne es gerne eine Ein-Mann-Band, und ich glaube, genau das macht es so besonders und vielseitig.

Wo verorten Sie das Akkordeon in der Klassikwelt?

Sidorova: Wenn man sich Konzertprogramme in aller Welt anschaut, besonders aber in Deutschland, das ja eine Hochburg der klassischen Musik ist, sieht man Akkordeonisten in den großen Sälen, die solistisch, mit Orchester oder in verschiedensten Ensembles auftreten. Seit den 1960er-Jahren hat das Interesse von Komponisten, für dieses Instrument zu schreiben, rasant zugenommen. Wie eine Orgel hat das Akkordeon zwei Manuale, man kann die vielfältigsten Klangfarben erzeugen und sogar ähnliche Spieltechniken wie bei Streichern anwenden. Zeitgenössische Komponisten haben es auf ein ganz neues Level gehoben. Das Akkordeon hat sich in der Klassik längst etabliert, und ich denke nicht, dass es eines Tages von dort verschwinden wird.

Zugleich wird es oft mit Folklore und Tango in Verbindung gebracht.

Sidorova: Ich stehe voll und ganz zur doppelten Natur des Akkordeons und finde es großartig, dass es einerseits Wurzeln in der Volksmusik hat – die Tangos von Astor Piazzolla zählen beispielsweise unumstößlich zu meinem Repertoire –, man andererseits darauf aber auch Bach und Zeitgenössisches spielen kann. Manchmal bin ich die Erste, die als Akkordeonistin bei einem Orchester zu Gast ist, oder ich komme zu einem Ensemble, das zum ersten Mal ein Werk für mein Instrument in Auftrag gegeben hat. Ich wünsche mir, dass wir uns alle offen und positiv eingestellt begegnen. Wir haben alle ein Gespür für Extreme und neigen zum Schwarz-Weiß-Denken. Letztlich geht es aber doch darum, authentisch zu sein und das Instrument so zu zeigen, wie es wirklich ist.

Sie haben als Sechsjährige auf Initiative Ihrer Großmutter mit dem Akkordeonspiel begonnen. Was faszinierte Sie als Kind daran?

Sidorova: Meine Großmutter fand, es wäre eine gute Idee, Musik als ein Hobby zu beginnen, egal auf welchem Instrument. Sie brachte mir ein paar Melodien bei, damit ich sie beim Singen begleiten konnte. „Wie cool ist das bitte, ich kann Töne erzeugen!“, dachte ich. Wir hatten gemeinsam viel Spaß. Am Ende der Sommerferien erkundigte sich meine Mutter nach Unterricht an der Musikschule. Als ich dort sagte, dass ich unbedingt Akkordeon lernen will, antwortete man scherzhaft, nur gescheiterte Pianisten würden zum Akkordeon wechseln. Doch kein anderes Instrument hat mir so gut gefallen! Später brachte mir die wunderbare Marija Gasele in Riga die ersten klassischen Stücke bei und zeigte mir, dass es nicht nur um Spaß geht, sondern dass Musik eine hohe Form der Kunst sein kann.

Inwiefern eignet sich das Instrument für Einsteiger?

Sidorova: Jeder kennt es, und es ist sehr zugänglich. Im Gegensatz zur Geige etwa können Anfänger schon früh saubere Töne erzeugen. Auch wenn man sich das Spielen zunächst selbst beibringt, findet man rasch einen Weg in die Musik. Anfangs kommt man mit der rechten Hand aus, die linke ist etwas komplizierter, aber auch da findet man sich schnell zurecht. Das Instrument ist recht logisch aufgebaut. Zugegeben, es ist etwas groß, aber es gibt auch kleinere Bauarten für Kinder.

Apropos groß: Nennen Sie Ihr Akkordeon noch „das Biest“?

Sidorova: Natürlich! Als ich an der Royal Academy of Music in London studiert habe, gab es die legendären Hauskonzerte bei Martin Summers (einem Kunsthändler aus Chelsea, Anm. d. Red.). Die Akademie hat damals talentierte Studierende vermittelt, eines Tages auch mich. Später erfuhr ich, dass Summers auf die Anfrage der Akademie erst skeptisch reagiert hat. Doch die Musik auf dem Akkordeon gefiel ihm gut, und so fing er an, das Instrument liebevoll „das Biest“ zu nennen. Als mir in einem späteren Semester mein Akkordeon gestohlen wurde, war Martin der Erste, der mir dabei half, eine Spendenaktion für ein neues Instrument auf die Beine zu stellen. Seitdem heißt mein Akkordeon immer „das Biest“.

„Musik spricht die Seele an“, ist Ksenija Sidorova überzeugt
„Musik spricht die Seele an“, ist Ksenija Sidorova überzeugt

Welchen Rat haben Sie für Anfänger?

Sidorova: Jeden Tag ein bisschen üben! Um die linke Hand, das Bassmanual, zu beherrschen, braucht man ein gutes Muskelgedächtnis und viel Gefühl. Das erlangt man nur durch regelmäßiges Üben. Habt Spaß dabei, mit dem Balg zu experimentieren und die verschiedenen Klangmöglichkeiten zu entdecken.

Welche Klischees über das Akkordeon würden Sie gerne aus der Welt schaffen?

Sidorova: Dass es nur für Bands geeignet wäre, die auf Hochzeiten spielen. Manche behaupten außerdem, es sei ein „männliches“ Instrument. Das ist Quatsch! So wie viele Männer wunderbar Flöte oder Harfe spielen, ist das Akkordeon genauso gut für Frauen geeignet. Und drittens: Dass heutzutage nur völlig verrückte Musik dafür geschrieben würde. Es gibt wunderschönes und neues Repertoire, das nicht nur den Verstand, sondern auch die Seele anspricht!

Welches Stück sollte denn jeder kennen?

Sidorova: Spontan fällt mir Albert Vossens „Flick-flack“ ein. Es beruht auf einer Weise, die nach und nach immer schneller wird, ein bisschen so, wie sich ein Karussell dreht. Aber das gehört eher zum traditionellen Repertoire. Sofia Gubaidulina hat für das Akkordeon geschrieben, was großartig ist, ebenso hat Luciano Berio eine „Sequenza“ komponiert, was wiederum die wenigsten wissen. Jetzt schickt sich Fazıl Say an, ein Akkordeonkonzert zu schreiben. Ich glaube, es gibt nicht das eine Werk, das jeder kennen muss. Es gibt ganz viele! Hauptsache, man hört überhaupt etwas.

Was wünschen Sie sich für das Akkordeon allgemein in 2026?

Sidorova: Dass es die Reise genießt, auf die es nun geschickt wurde, und sich weiterhin in der Welt der klassischen Musik behauptet. Es ist ein Privileg, dass das Akkordeon zum „Instrument des Jahres“ ernannt wurde. Wir sollten auf der Welle der Begeisterung mitreiten und diese Aufmerksamkeit nutzen. Ich freue mich sehr darauf, bei Konzerten Akkordeonliebhaber zu treffen, und zwar nicht nur die Profis, sondern auch diejenigen, die vielleicht sagen: Du hast mich inspiriert, mein Instrument nach 30 Jahren wieder hervorzuholen. Musik bereichert unser Leben, sie erdet uns und schenkt Momente des Friedens in unserer instabilen Welt.

Aktuelles Album:

Album Cover für Crossroads

Crossroads

Werke von J. S. Bach, Akhunov, Tabakova & Montero.

Ksenija Sidorova (Akkordeon), Sinfonietta Riga, Nordmunds Šnē (Leitung). Alpha

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