Dirigieren ist ein bisschen wie Straßenbahn fahren, sagt Sir Donald Runnicles. Vor seiner Einführung als neuer Chefdirigent der Dresdner Philharmonie ließ er sich auf einem Fahrersitz einer Tram seiner neuen künstlerischen Wahlheimat nieder und philosophierte über die Parallelen des einen wie des anderen „Conductors“: Rollenlassen, nicht überholen, bloß nicht zu schnell – einen „Mordsspaß“ machte dem bald 71-jährigen Schotten aber nicht nur das Bahnfahren, sondern er fühlte sich von Beginn an heimisch in Dresden. Im Interview spricht er über seine erste Saison, das britische Idiom und warum der Kontakt zum Publikum so wichtig ist.
Ihre erste Saison in Dresden haben Sie „Neue Welten“ genannt. Was hat man sich darunter vorzustellen?
Donald Runnicles: Das beginnt schon damit, dass eine intensivere Beziehung mit der Dresdner Philharmonie anfängt. Aber es hat vor allem mit der Musik aus Großbritannien zu tun, die kaum gespielt wird in Dresden. James MacMillan ist in den kommenden beiden Saisons unser Composer in Residence – und sowohl als Komponist als auch als Dirigent zu erleben. Von diesem neuen Repertoire werden sowohl das Orchester als auch das Publikum profitieren.
Woran liegt es, dass die englische Musik gerade in Deutschland eher unbekannt ist?
Runnicles: Das ist eine gute Frage, denn außer Henry Purcell, Edward Elgar, Benjamin Britten, Gustav Holst und vielleicht noch Michael Tippett ist die britische Musik in deutschen Konzertsälen unterrepräsentiert. Sie gilt auf dem Kontinent immer ein wenig als die „Cousine vom Land“.
Gibt es denn ein britisches Idiom?
Runnicles: Wir könnten lange hier sitzen, um das zu definieren. Zum Beispiel bilden bei Benjamin Britten häufig englische, schottische oder irische Lieder, also die britische Volksmusik, den Hintergrund der Werke. Ich stelle mir oft die Frage, was die „Enigma-Variationen“ so britisch macht. Es liegt nicht unbedingt an der Instrumentierung, denn da hat Edward Elgar seinen Strauss und Wagner gut gekannt. Möglicherweise hören wir das als englische Musik, weil wir wissen, dass es englische Musik ist. Also eher eine Zuschreibung, eine Assoziation. Was macht das „War Requiem“ so einmalig – die Intervalle, die Instrumentierung? Da können sicherlich viel Klügere als ich die bessere Antwort geben. Andererseits hört man bei Vaughan Williams’ „Tallis“- Fantasie, die wir im ersten Konzert der Saison spielen, dass diese alte Musik für eine englische Kathedrale komponiert wurde. Das ist sozusagen unsere Muttermilch, denn wir kennen dieses alte Volkslied sehr gut.
Sie führen die Tradition der Dresdner Philharmonie fort, auch konzertante Oper zu machen. Warum dann Richard Strauss und keine englische Oper?
Runnicles: Erstens eignet sich „Elektra“ gut für den Konzertsaal, weil sie abendfüllend etwas über anderthalb Stunden dauert. Zweitens wird das Orchester enorm herausgefordert und hat eine ganz eigene, gewichtige Stimme, die sehr viel ausdrückt. Drittens ist es ein grandioses Stück, was ich schon sehr oft konzertant gemacht habe, gerade weil man die Gelegenheit hat, sich einmal ganz auf die Musik zu konzentrieren. Die irrsinnig virtuose Partie wird auf dem Podium viel besser sichtbar als im Orchestergraben.
Bis 2026 läuft Ihr Vertrag als Generalmusikdirektor an der Deutschen Oper Berlin. Wird Ihnen dann das Bühnengeschehen fehlen, oder haben Sie keine Lust mehr auf das Szenische wie Ihr Dresdner Vorgänger Marek Janowski?
Runnicles: Mein ganzes Berufsleben habe ich Opern dirigiert, denn ich liebe die Oper als Gesamtkunstwerk im Wagnerschen Sinne heiß und innig. Ich werde das schon sehr vermissen, besonders die wunderbaren Jahre an der Deutschen Oper Berlin. Aber bekanntlich nimmt eine Opernproduktion viel Zeit in Anspruch im Unterschied zu sinfonischen Programmen, die ganz andere Herausforderungen stellen und auf die ich mich nun auch sehr freue.
Und was ist Ihre Haltung zum modernen Regietheater?
Runnicles: Man kann mit einer Oper ziemlich drastisch umgehen. Am wichtigsten finde ich, dass die echte Geschichte erzählt wird, damit sie für ein Publikum sofort zu erfassen ist. Wir müssen immer davon ausgehen, dass viele, die abends in der Aufführung sitzen, das Stück zum ersten Mal erleben. Es kann durchaus in die Gegenwart versetzt werden, aber nie ohne die Absichten des Komponisten oder Librettisten zu respektieren. Deswegen arbeite ich in Berlin so gern mit Tobias Kratzer zusammen, der sehr kreativ ist und Einsichten und Erkenntnisse einbringt, auf die ich gar nicht gekommen wäre. Trotzdem bleibt bei ihm die eigentliche Erzählung integer.
Haben Sie auch Lust auf den Graben der Semperoper?
Runnicles: Ich arbeite sehr gerne mit der Staatskapelle zusammen. Ein grandioses Haus! Das möchte ich nicht ausschließen.
Wie wollen Sie das Publikum für den Konzertsaal gewinnen?
Runnicles: Ich denke, dass schon aus lauter Neugier ein gutes Publikum kommen wird. Wir haben ja auch einen hohen Abonnentenstamm.
… was heute ungewöhnlich ist. Viele entscheiden sich später und kurzfristiger. Sie haben den internationalen Vergleich. Was hat sich seit der Corona-Zeit verändert?
Runnicles: In der Tat war es weltweit eine enorme Herausforderung, das Publikum wieder zurückzuholen. Während dieser zweieinhalb Jahre hat es sich an einen anderen Lebensstil gewöhnt. Danach haben viele lange gebraucht, um sich wieder in einem vollen Saal wohlzufühlen. Inzwischen sehen wir wieder Rekordzahlen, auch bei der Dresdner Philharmonie. Kürzlich traf ich bei meinem Festival in Wyoming Harrison Ford, der im Publikum saß, mich nach dem Konzert umarmte und zu mir sagte: „Maestro, ich hatte ja keine Ahnung, wie sehr mir das gefehlt hat!“ Wir alle brauchen die Musik mehr denn je.

Und trotzdem müssen sich die Konzerthäuser legitimieren. Wie schafft man den Spagat zwischen William Walton und Kassenschlagern?
Runnicles: In Deutschland können wir letzten Endes nur so mutig und provokant sein, weil wir subventioniert und nicht wie in Amerika allabendlich auf eine 80-prozentige Auslastung angewiesen sind. Mit unseren Budgets gehen wir gleichwohl verantwortungsvoll um. In Berlin haben wir viele Uraufführungen gestemmt und gleichzeitig 34 bekannte Opern gespielt. Ein Menü muss vielseitig sein. Und wenn eine Uraufführung zu 50 Prozent ausgelastet ist, klingt das erst mal schlimm, aber bei der Platzanzahl sind es immer noch 1000 Menschen, die beseelt nach Hause gehen. Auch in Dresden möchte ich den Punkt erreichen, an dem das Publikum sagt: Wir haben Vertrauen in euch, auch wenn wir nicht wissen, was uns erwartet. Wenn der Runnicles das Stück programmiert, glauben wir ihm, dass es interessant wird. Die Beziehung zu einem Publikum ist wie ein Tanz, eine gewisse Choreografie: Wann führt man, wann lässt man tanzen? In Amerika sind die Budgets bei vielen Orchestern und Opernhäusern nur noch zu 20 Prozent von Kartenverkäufen gedeckt, der Rest ist Fundraising. Wir müssen mit unserer Arbeit überzeugen, ja begeistern, und wir alle wissen, dass Spitzensport und Spitzenkultur für unsere Stadtgesellschaft viel wert sind und dass sie bestimmte Voraussetzungen benötigen.
Lassen Sie uns noch mal zur Kunst zurückkommen. Wie würden Sie die Dresdner Philharmonie beschreiben?
Runnicles: Es ist ein hervorragendes Orchester, das weiß, dass es immer weiter an sich arbeiten und mehr riskieren muss. Ich meine nicht die Programme, sondern das Zusammenspiel: Es muss nicht unbedingt von vorne alles diktiert werden. Ich spüre: Das Orchester schaut sich selbst an und sagt, wir müssen flexibler sein, autonomer miteinander spielen, am Klang arbeiten – und daraus erwächst dann eine gewisse Freiheit und Spontaneität beim Musizieren.
Was meinen Sie damit?
Runnicles: Nach einer sehr intensiven Probenarbeit kann bei der Aufführung eine neue Energie durch das Publikum entstehen, die den besonderen Moment ausmacht und das Orchester in seiner kollektiven kreativen Freiheit ermächtigt, etwas ganz anders zu musizieren, als es geprobt war. Auf einmal kann der Dirigent aufhören zu dirigieren, weil die Musiker selbst Verantwortung übernehmen, wie in der Kammermusik. Mir ist sehr wichtig, mich zurückzunehmen und nicht mehr als ein Toningenieur zu sein: hier ein bisschen mehr Tiefe, hier etwas dunkler, dort etwas lichter. Die wenigen Konzerte, die wir schon miteinander hatten, haben mir gezeigt: Es ist sehr erfüllend, vor diesem Orchester zu stehen. Ich möchte diese Freiheit geben, es rollen zu lassen. Wie bei der Straßenbahn.
Aktuelles Album:
R. Strauss: Intermezzo
Philipp Jekal (Robert Storch), Maria Bengtsson (Christine), Orchester der Deutschen Oper Berlin, Donald Runnicles (Leitung), Tobias Kratzer (Regie). Naxos

