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Interview Benjamin Bernheim

„Für mich ist Belcanto wie Pilates“

Der lyrische Tenor Benjamin Bernheim über die Ambivalenz eines Künstlerlebens.

vonChristian Schmidt,

Benjamin Bernheim gilt als die Entdeckung am Sternenhimmel der lyrischen Tenöre. Mit seiner ausdrucksvollen Stimme zeigt sich der Franzose als sehr wandelbar, was leider sehr selten geworden ist. Aber der 36-Jährige, gerade erst zum Ritter des französischen Kulturadels geschlagen, ist auch sehr bescheiden geblieben, ehrlich und – trotz immer neuer Rollendebüts, Preise und Promotiontouren – erfrischend selbstreflexiv. Im Interview berichtet Bernheim über die Corona-Folgen, sein kompliziertes Verhältnis zur eigenen Stimme und das Glück, Geschichten erzählen zu dürfen.

Sie singen gerade in Wien, das kulturelle Leben kehrt zurück. Wie nachhaltig hat es durch die Pandemie Schaden genommen?

Benjamin Bernheim: Zuallererst hat das den Institutionen geschadet. Selbst als die Häuser wieder öffnen durften, gab es überall Probleme, die Aufführungen wieder gefüllt zu bekommen, weil das Publikum noch Angst hatte. Mittlerweile kommt es aber zurück, das habe ich gerade erst hier in Wien erlebt, wo das Bedürfnis nach Kultur besonders groß zu sein scheint. Am meisten hat die junge Künstlergeneration gelitten, deren Karriere gerade erst begann, aber zwei Jahre lang weder über Vorsingen noch Wettbewerbe aufgebaut werden konnte. Da hat sich ein großer Stau von Absolventen gebildet, die sich teilweise Alternativen suchen mussten.

Sie selbst haben mit Violine und Klavier angefangen. Wie kamen Sie auf Ihre eigene Stimme?

Bernheim: Ich hatte zwar immer schon ein sehr gutes Gehör, aber manuell nie die beste Technik, um es auf den Instrumenten allzu weit bringen zu können. Daher trat ich in den Kinderchor des Genfer Konservatoriums ein, in dem ich schnell erste Bühnenerfahrungen im Grand Théâtre sammeln konnte.

 Hat das Ihren Berufswunsch geprägt?

Bernheim: Ehrlich gesagt waren die Erfahrungen im Kinderchor nicht sehr schön, aber die Atmosphäre des Theaters mit all den Eindrücken hinter der Bühne hat mich sehr beeindruckt.

Welche Beziehung haben Sie heute zu Ihrer Stimme?

Bernheim: Während meines Studiums fand ich viele schöne Dinge in den Stimmen meiner Kommilitonen. Aber immer wenn ich meinen eigenen Gesang aufnahm, konnte ich meiner Stimme nichts Schönes abgewinnen. Sie klang wie eine Trompete, vom Sitz her sehr weit vorn und nicht sehr anmutig, um ehrlich zu sein. Nein, ich mochte sie nicht. Und bis heute führe ich keine Liebesbeziehung mit ihr. Ich spüre, dass die Stimme arbeitet und sowohl dem Publikum als auch der Musikindustrie gefällt, das finde ich natürlich angenehm. Die Tenorstimme hat ja letztlich eine unnatürliche Lage. Aber es gibt eine Menge Tenöre, deren Stimmen ich sehr schön finde. Baritone und Bässe halte ich aber für sehr viel nobler.

Ist es eher die Stimme im Kopf oder die von Ihren Aufnahmen, zu der Sie Distanz halten?

Bernheim: Beides. Aufnahmen sind sehr hart für mich, denn ich höre die Probleme heraus, die ich lieber besser gemacht oder klanglich verändert hätte, da werte ich mich dauernd aus. Meine Stimme greift auf Geist und Körper zu, das funktioniert, aber die Distanz hilft mir dabei, damit eine Geschichte auf der Bühne zu erzählen. Das ist die Balance, die ich für mich gefunden habe.

Ich denke, die Menschen schätzen gerade die lyrische Stimme, die in der Lage ist, wirklich Geschichten hinter der Rolle zu erzählen.

Bernheim: Das stimmt. Schon als ich etwa siebzehn war und ich meine Stimme eigentlich hasste, merkte ich trotzdem, dass meine Umgebung mochte, wenn ich sang. Irgendwann kam der Punkt, an dem ich Frieden mit ihr schließen musste, aber das dauerte, bis ich etwa 27 war. Bis dahin hielt ich sie für unausgereift. Heute sagt die Welt der Oper: Wir brauchen Stimmen wie deine. Ich muss das nicht verstehen, warum es den Menschen gefällt. Heute kann ich diese unterschiedlichen Erfahrungen an junge Menschen weitergeben.

In Meisterklassen?

Bernheim: Nein, in der Kantine beim Kaffee. Ich bin kein Meister. Ich lerne immer noch.

Haben Sie je daran gedacht, etwas vollkommen anderes zu machen?

Bernheim: Ja, ich habe zweimal für ein halbes Jahr ganz aufgehört zu singen, mit 25 und 28. Ich arbeitete in völlig anderen Gefilden, kam aber beide Male mit einer frischen Perspektive zurück. Nach der zweiten Pause spürte ich, dass ich genug Zeit verschwendet hatte, um ständig hin- und herzupendeln. Ich musste einen Weg finden, als Künstler auf der Bühne effizient zu werden. Das ist ja das Schöne an dem Beruf, irgendwann so gereift zu sein, dass man eben eine Geschichte erzählen kann.

Wie konnten Sie sich motivieren, wieder anzufangen?

Bernheim: Ich begann wieder mit Gesangsstunden, aber aus einer anderen Perspektive: mehr mental und psychologisch. Ziel war, das Singen wirklich zu meiner eigenen Sache zu machen, unabhängig von Professoren, Coaches oder Hochschulen – kurz: das Gefühl, daran allein arbeiten zu können, ohne äußeren Einfluss. Und niemand weiß ja, wie sich die Stimme entwickelt, ob der Hunger nach Singen noch da ist.

Nicht wenige haben ihre junge Karriere ab- oder unterbrochen, weil sie kein übliches Solistenleben führen wollten.

Bernheim: Ja, das hat viel mit Alleinsein zu tun – ob unterwegs, im Hotel oder in neuen Städten, die Sie sich erstmal erobern müssen. Familie und Freunde sind weit weg. Aber es ist auch ein sehr reiches Leben: Man reist viel, sieht neue Orte, erlebt Erfolge, trifft interessante Menschen. Die Frage ist, wie man das ausbalanciert. Ich verstehe Kollegen, die lieber viel zu Hause sind und daher in Ensembles arbeiten, aber das wäre nichts für mich. Ich mag das einsame und gleichzeitig aufregende Solistendasein zwischen Flughäfen, wunderbaren Städten und Debüts an berühmten Bühnen.

Sie haben soeben als Edgardo in Lucia di Lammermoor debütiert. Was ist daran das Besondere?

Bernheim: Das ist eine große Belcanto-Partie: eine ziemlich schwierige Übung. Denn dieser Donizetti lächelt nicht, sondern kommt sehr dramatisch daher. Das stellt vor allem mental ganz andere Aufgaben. Für mich ist Belcanto wie Pilates: Die Stimme wird sehr diffizil geführt, mit sehr kleinen, aber kontrollierten Bewegungen, also nicht wie bei anderen großen Opern, die mehr Freiheit erlauben; doch zugleich trainiert das auf sehr gesunde Weise. Ich merke, dass mein Körper arbeitet. Es ist weniger eine Freude, mehr eine Ekstase.

Welche Erfahrungen haben Sie mit dem modernen Regietheater, das Jahrhunderte alte Stücke ständig aktualisieren will?

Bernheim: Sehr unterschiedliche. Ich mag gern alte Produktionen, die zu hundert Prozent die Geschichte erzählen, auch wenn sie manchmal kompliziert sind, weil der Regisseur nichts mehr erklären kann. Andererseits hatte ich auch sehr interessante Erlebnisse, etwa mit Claus Guths „La Bohème“ in einem Raumschiff. Wenn das Konzept schlüssig ist, überzeugt es auch mich. Auf jeden Fall müssen wir heute – im Vergleich zu unseren Kollegen vor sechzig Jahren – viel mehr als nur singen: schauspielern, gut aussehen, komplette Künstler sein.

Fühlen Sie sich demzufolge auch zeitgenössischer Musik verbunden?

Bernheim: Würde ich gern. Das Problem ist, dass es nicht viel Musik gibt, die man wirklich auch singen kann. Nicht alle Komponisten haben einen Sinn für die Stimme und ihre Grenzen. Da hoffe ich auf eine neue Generation.

2019 traten Sie in einen Exklusivvertrag mit der Deutschen Grammophon ein. Wir dachten schon, so etwas gibt es gar nicht mehr. Wie haben Sie das geschafft?

Bernheim: Ich habe danach nicht gesucht. Irgendwann kam eine Produzentin von dort, die an mich glaubte. Ich weiß, dass das auch für viel bessere Sänger mit viel größeren Karrieren, mehr Fans und Followern sehr schwierig ist. Ich war einfach auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Und Sie haben überzeugt!

Bernheim: Ich denke schon. Aber da spielen ja viele Faktoren eine Rolle. Die Stimmfarbe sicher, die Partien, aber auch die Herkunft, das Aussehen, der Name, das Alter. Möglicherweise auch die Nationalität. Ich weiß es nicht, nach welchen Kriterien sie wählen. Vielleicht haben sie einfach Vertrauen in meine Entwicklung.

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