Sie ist eine todessüchtige Extremistin der Liebe. Mit dem kapitalistischen Geschacher ihres noch dazu sexuell übergriffigen Vaters will sie nichts zu tun haben, Senta zieht sich, psychologisch somit mehr als verständlich, zurück in ihre Mädchenkammer, wo allerhand Devotionalien der Gothic-Szene uns von den Träumen einer Aussteigerin erzählen. Besonders das Bildnis eines Gleichgesinnten ist unübersehbar – jenes des namenlosen Holländers, den sie imaginiert, aber noch nie getroffen hat.
Masse und Klasse, Open-Air-Atmosphäre und Opern-Anspruch, Publikumsnähe und interpretatorische Haltung bedingen sich!
Regisseur Georg Schmidtleitner belässt es keineswegs bei der Ruinen-Romantik der stimmungsvollen Burg Hellenstein auf dem Hausberg von Heidenheim, wo auf diesem anderen Grünen Hügel in diesem Sommer Wagners „Der fliegende Holländer“ über die Bühne ging. Der dirigierende Festivalintendant Marcus Bosch und sein Regieteam beweisen: Masse und Klasse, Open-Air-Atmosphäre und Opern-Anspruch, Publikumsnähe und interpretatorische Haltung schließen sich mitnichten aus, nein, sie bedingen sich! Die Opernfestspiele Heidenheim senden ein Ausrufezeichen der Qualität in die ansonsten immer mehr von niedrigschwelligem Kunstkonsum geprägten Sommerfestivals.
Sentas Kraft des Zerstörerischen
Und so verwandelt Georg Schmidtleitner also seine Senta von der schwärmerischen Romantikerin in ein störrisches Gothic-Girl. Die besitzt die Kraft des Zerstörerischen, die ist exzentrisch und unangepasst, ist aufmüpfige Gegenfigur zu all den braven werktätigen Chordamen in Dalands Fabrik, die geradewegs aus einem der erfolgreichen Industriebetriebe Heidenheims stammen könnten und von Vorarbeiterin Mary (Melanie Forgeron) zur Arbeit angetrieben werden.
Holländer sucht Außenseiterin zwecks gemeinsamer Erlösung
Einen entsprechend entfremdeten Durchgangsort hat Stefan Brandtmayr denn auch auf die zwar gar nicht tiefe, aber dafür langgestreckte Bühne gestellt. Es gleicht einem überdimensionierten Container, könnte aber auch die Gangway eines Schiffes sein, durch die neue Waren angelandet werden. Ja, die Burg wird hier gleichsam zum Schiff, auf dem der Holländer als Verdammter durch die Weltmeere segelt, auf der Suche nach einer Außenseiterin, die ihm gleicht, die ihn, so Wagners Wortwahl, einst erlösen wird.
Es gibt deutlich mehr Tote als erwartet
Georg Schmidtleitner, der mit Marcus Bosch in Nürnberg zuvor einen sehr von Heute aus gedachten „Ring“ geschmiedet hat, entdeckt nun bereits im Frühwerk „Der fliegende Holländer“ Wagners dezidiert gesellschaftskritische, ja antikapitalistische Grundüberzeugungen, entdeckt die Radikalität des jungen Gesamtkunstwerkers, in dessen biedermeierlicher Daland-Welt sich allerhand Abgründe auftun. Da wirkt es nur folgerichtig, dass am Ende nicht nur die hysterische Senta freiwillig in den Tod geht und auf diesem Wege mit ihrem Holländer womöglich die Flucht in eine andere Welt antritt. Der szenisch deutlich aufgewertete Steuermann (tenorlyrisch: Martin Platz) sticht zuvor seinen Chef Daland (basswuchtig: Randall Jakobsh) ab, und Senta befördert ihren Ex Erik (heldentenoral bestimmt: Vincent Wolfsteiner) ins Jenseits.
Die Sänger: internationales Festspielniveau
Gesungen wird allenthalben auf internationalem Festspielniveau. Allen voran von dem Wagners Ideal eines „vaterländischen Belcanto“ beglaubigenden Antonio Yang in der Titelpartie eines schwarzen Magiers, bei dem baritonales Legatoempfinden und Deklamationsschärfe einmal kein Widerspruch sind, sowie der Senta der Annette Seiltgen, deren angenehme Sopranschärfe weniger das Mädchenhafte, denn das Selbstbestimmte der Figur in den Fokus rückt. Marcus Bosch verortet die Partitur in ihrer Urfassung (in Ouvertüre wie Finale ohne den später hinzugefügten Erlösungsschluss) gemeinsam mit den Stuttgarter Philharmonikern kompromisslos klar in der Frühromantik: Da herrschen strenge Tempi und aufgeraute Dramatik, Spielopern-Präzision und scharf konturierte Farben.
Opernfestspiele Heidenheim
Wagner: Der fliegende Holländer
Ausführende: Marcus Bosch (Leitung), Georg Schmidtleitner (Regie), Stefan Brandtmayr (Bühne), Cornelia Kraske (Kostüme), Antonio Yang, Randall Jakobsh, Annette Seiltgen, Vincent Wolfsteiner, Melanie Forgeron, Martin Platz, Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn, Stuttgarter Philharmoniker