Sommerreihe: Starke Frauen – Germaine Tailleferre

Le Dame des Six

Als einzige Frau unter Männer gehörte Germaine Tailleferre der “Groupe des Six” an

© gemeinfrei (13), F. Hoffmann La Roche Ltd., Yamaha, shutterstock, Christophe Abramowitz

Collage Komponistinnen

Komponisten sind in der Regel Individualisten. Dennoch sind zwei Komponistenverbünde in die Musikgeschichte eingegangen, die auch noch aufeinander Bezug nehmen: Die russische „Gruppe der Fünf“, auch bekannt als “Das mächtige Häuflein”, und – folgerichtig – die französische „Groupe des Six“. Die Fünf nannten sich selbstbewusst „Novatoren“ (Erneuerer), lebten um 1870 in Russland und versuchten dort, eine eigenständige russische Musik zu schaffen, losgelöst vom starken Einfluss insbesondere der deutschen Romantik. Zu ihnen gehörten Alexander Borodin, Nikolaj Rimski-Korsakow, Mili Balakirew, César Cui und Modest Mussorgski.

Rund fünfzig Jahre später trafen sich in Paris „Les Six“. Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg schien die Zeit reif für eine neue Epoche, die sich vor allem als Gegenstück zur Spätromantik verstand, speziell in Frankreich aber auch in einer Abkehr von Claude Debussys Impressionismus. Beide Gruppen eint, dass sie nur kurz bestanden, kein offizielles Ende hatten und vor allem gar keine festen Gemeinschaften waren, sondern von Kritikern als solche zusammengefasst wurden.

Aber es gab auch Unterschiede. Während „Das mächtige Häuflein“ nur getrennt voneinander komponierte, gaben „Les Six“ auch gemeinsame Werke heraus, zu denen die Komponisten in unterschiedlichen Konstellationen ihren Teil beitrugen. Und noch einen grundlegenden Unterschied gab es zu den russischen Vorgängern: Neben Darius Milhaud, Francis Poulenc, Arthur Honegger, Georges Auric und Louis Durey gehörte auch eine Frau zur Groupe des Six.

Allein unter Männern: Germaine Tailleferre

Diese Frau wurde 1892 als Marcelle Taillefesse geboren; bekannt ist sie uns heute unter dem Namen Germaine Tailleferre. Sie änderte ihren Nachnamen nicht, wie zu ihrer Zeit selbstverständlich, als sie heiratete, sondern aus Protest gegen ihren Vater, der ihre musikalische Ausbildung nicht unterstützen wollte. Nachdem sie von ihrer Mutter Klavierunterricht erhalten hatte, studierte sie bereits im Alter von zwölf Jahren am Pariser Konservatorium – hinter dem Rücken ihres Vaters. Dort lernte sich nicht nur die fünf späteren „Les Six“-Kollegen kennen, sondern erhielt auch mehrere erste Preise für ihre Werke.

Es fiel ihr jedoch schwer, sich ganz der Musik zu widmen: Germaine Tailleferre war auch als Malerin begabt und konnte sich kaum für eine der beiden Professionen entscheiden. Während ihres Musikstudiums lebte sie im Künstlerviertel Montparnasse und verbrachte viel Zeit mit den dort ansässigen Malern, lernte Amedeo Modigliani und Pablo Picasso kennen und nahm Zeichenunterricht. Picasso gab ihr auch einen wichtigen Rat mit auf dem Weg: „Versuchen Sie, etwas Neues zu finden, sich stets zu erneuern, benutzen Sie nicht die ‚Rezepte‘, die Sie bereits gefunden haben.“ Dies beherzigte die junge Künstlerin und erinnerte sich im Nachhinein: „Das ist die beste Kompositionsstunde, die ich je bekommen habe.“

Der Weg zur Komponistin

Germaine Tailleferre hatte nicht nur Talent, sondern auch die Unterstützung angesehener Kollegen. 1917 war es Eric Satie, der sie mit einlud in die „Nouveaux Jeunes“, eine Vereinigung junger Komponisten. Ab 1923 gehörte sie dann zum Kreis um Maurice Ravel, der in einem Landhaus außerhalb von Paris zahlreiche Künstler, darunter jüngere Kollegen, für einen engen Austausch um sich versammelte. Ravel war es auch, der Tailleferre empfahl, sich um den Prix de Rome zu bewerben, ein begehrtes Stipendium, das mit einem längeren Studienaufenthalt in der Villa Medici in Rom verbunden war.

© gemeinfrei

Groupe de Six v.l.n.r: Germaine Tailleferre, Darius Milhaud, Arthur Honegger, Jean Winer, Georges Auric, Francis Poulenc, Jean Cocteau; in der Mitte die Pianistin Marcelle Meyer. Gemälde von Jacques-Èmile Blanche, 1922

Groupe de Six v.l.n.r: Germaine Tailleferre, Darius Milhaud, Arthur Honegger, Jean Winer, Georges Auric, Francis Poulenc, Jean Cocteau; in der Mitte die Pianistin Marcelle Meyer. Gemälde von Jacques-Èmile Blanche, 1922

Doch daraus wurde nichts. Mit dem Bekanntwerden der Groupe des Six gewann auch Germaine Tailleferre an Berühmtheit – jedoch nicht vordergründig als Komponistin, sondern als „Dame des Six“. Es war ein Novum, dass eine Frau unter so talentierten Männern eine gleichberechtigte Rolle spielen sollte und die Presse stürzte sich begeistert auf die junge Frau. So schrieb der Musikkritiker Henri Collet über einige ihrer Werke: „Die ,Jeux de plein air’, die ,Pastorale’ oder das ,Streichquartett’ von Germaine Tailleferre enthüllen endlich eine weibliche Natur ohne Eitelkeit und Geziertheit. Dies sind Werke eines jungen Mädchens von heute, offen und gerade, fein und vertraut mit allen Kühnheiten ihrer Kunst.“

In der Musik erfolgreich, im Privatleben nicht

Während Tailleferre von der Presse immer wieder mit positiven Kritiken bedacht wurde und als erfolgreiche und vor allem bekannte Komponistin ihrer Zeit bezeichnet werden kann, sah es in ihrem Privatleben etwas anders aus. 1926 lernte sie während einer Amerikareise den Karikaturisten Ralph Barton kennen und heiratete ihn kurze Zeit später. Doch die Ehe stand unter keinem guten Stern: Als Barton erfuhr, dass seine Frau ein Kind erwartete, bedrohte er sich mit einem Revolver. Bereits 1930 wurden die beiden geschieden, Barton beging im Jahr darauf Selbstmord.

Es folgte eine Liaison mit dem französischen Rechtsanwalt Jean Lageat, aus der die Tochter Françoise unehelich hervorging. 1932 heiratete das Paar schließlich heimlich in London. Da Lageat bald darauf an Tuberkulose erkrankte, war es an seiner Frau, für den Lebensunterhalt zu sorgen. Dank der guten Auftragslage, insbesondere für Kompositionen für den Tonfilm, war er ihr möglich, die finanzielle Sicherheit ihrer Familie zu gewährleisten.

Exil in den Vereinigten Staaten

Während des Zweiten Weltkriegs ging Germaine Tailleferre für vier Jahre ins amerikanische Exil, immer von der Sorge um ihre in Frankreich zurückgebliebene Familie begleitet. 1946 konnte sie schließlich zurückkehren und hielt sich mit Kompositionen wie Balletten, Hörspielen oder Filmmusiken mehr schlecht als recht über Wasser. Eine Grund für ihren Erfolgseinbruch war wohl die Weiterentwicklung der zeitgenössischen Musik, der sich Tailleferre nicht anschließen wollte. Die seriellen Techniken eines Arnold Schönberg, der Serialismus eines Olivier Messiaen sowie Elektronik oder Aleatorik waren der Französin zu kopflastig. Nachdem sie als Lehrerin für Klavierbegleitung an der Schola Cantorum in Paris unterrichtet hatte, nahm sie aus Geldnot 84-jährig noch eine Stellung an der Ecole Alsacienne an. Überleben konnte sie nur durch die Hilfe von Freunden, die Spenden für die alte Dame sammelten.

Zum Ende ihres Lebens hin wurden Germaine Tailleferre dennoch einige Ehrungen zuteil. So erhielt sie den Großen Musikpreis der Stadt Paris und wurde mit 89 Jahren vom französischen Staat mit dem Grand-Croix des Ordre National du Mérite geehrt. Die Komponistin verstarb im November 1983 an den Folgen einer Oberschenkelhalsbruch-Operation in Paris.

Mit der “Groupe des Six” gegen das Vergessen

Wie bei ihren Kollegen ist die Zugehörigkeit zu “Les Six” in den frühen 1920er-Jahren fast nur eine Randerscheinung in Germaine Tailleferres Biografie. Doch immerhin ist ihr Name durch diesen Zusammenhang nicht gänzlich in Vergessenheit geraten.

Ihre wichtigsten Werke entstanden in den 1920er- und 30er-Jahren, darunter das erste Klavierkonzert, das Concertino für Harfe und Orchester, ein Konzert mit der ungewöhnlichen Besetzung für zwei Klaviere, Chor, Saxofone und Orchester, das Violinkonzert, mehrere Opern sowie die Kantate “Narcisse”. Fast alle Werke wurden erst nach ihrem Tod gedruckt. Dabei war Tailleferre vielfältig und ohne erkennbare Pause bis zuletzt tätig. Zu ihrem Werkkatalog gehören Klavierstücke, Kammermusik, kürzere Orchesterwerke, Ballettmusiken, aber auch Lieder, Filmmusik und mehrere Opern. Stilistisch gehörte sie sicher nicht zur Avantgarde, bevorzugte stattdessen gemäßigte Harmonien mit feinen Farbnuancen, wie sie von Ravel geprägt wurden.

In der heutigen Rezeption spielt Tailleferre eine deutlich geringere Rolle als ihre Kollegen Milhaud, Poulenc oder Honegger. Dabei schien sie zumindest in ihren jüngeren Jahren voll anerkannt, betrachtet man, in welchen Kreisen sie verkehrte und dass sie offenbar nicht in einer eher typischen Rolle als Muse verblieb, sondern auch als Komponistin Erfolge feiern konnte. Doch gibt es vielleicht einen geringen Trost für die Bewunderer ihrer Musik: Zumindest einer ihrer “Les Six”-Mitstreiter, Louis Durey, ist heute weniger bekannt als sie.

Das Morgenstern Trio spielt Germaine Tailleferres „Piano Trio“:

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