Seine musikalische Ausbildung habe bereits neun Monate vor seiner Geburt begonnen, sagt Myung-Whun Chung gern scherzhaft in Interviews. Als zweitjüngstes von sieben Kindern wurde er 1953 in Seoul geboren. Seine zwei älteren Schwestern spielen Geige und Cello, er selbst lernte Geige und Klavier und gab als Siebenjähriger sein Bühnendebüt. Nachdem seine Familie in die USA ausgewandert war, schien sich zunächst eine Karriere als Pianist abzuzeichnen. Ausgebildet bei Maria Curcio, der letzten Schülerin Artur Schnabels, gewann er 1974 den zweiten Preis beim Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau. Doch anstatt die Auszeichnung als Sprungbrett in die großen Konzertsäle der Welt zu nutzen, setzte er sein Dirigierstudium an der renommierten Juilliard School fort. Die Orchestermusik ließ ihn nicht los. „Eine Sinfonie von Mahler oder Bruckner kann ich auf dem Klavier nicht spielen. Meine Persönlichkeit ist jedoch so, dass ich all meine Energie in eine einzige Sache investieren will.“ Chung entschied sich also für den Weg des Dirigenten, der ihn bis heute auf zahlreiche Podien in aller Welt und zu einer Vielzahl von Orchestern geführt hat.
Als Carlo Maria Giulini 1979 Musikdirektor des Los Angeles Philharmonic wurde, setzte er erfolgreich alles daran, eine Assistentenstelle bei seinem großen Vorbild zu erhalten. Heute bezeichnet er den italienischen Maestro, dessen Sinn für ein rundes und kräftiges Klangbild auf ihn abgefärbt hat, als „Priester“ mit unvergleichlichem Verständnis für den tieferen Sinn der Musik. In Los Angeles lernte er das deutsche romantische Repertoire intensiv kennen, sodass ein Wechsel nach Europa nur eine Frage der Zeit gewesen sei.
Versierter Messiaen-Kenner
1984 wurde er Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Saarbrücken, wo er bald auf Olivier Messiaen traf. Zwischen dem spirituellen französischen Komponisten und dem jungen Orchesterleiter entwickelte sich eine tiefe künstlerische Beziehung. „Er war ein Heiliger, ein Mensch von reinster Seele. Er besaß die wunderbare Gabe, Schönheit zu spüren und dieser aus tiefstem Herzen Ausdruck zu verleihen.“ Rasch entwickelte sich Chung zu einem versierten Fürsprecher von Messiaens Musik, ein Ruf, der bis in die Gegenwart anhält. 1992 verhalf er dessen Oper „Saint François d’Assise“ in der wegweisenden Inszenierung von Peter Sellars zur Aufführung in Paris. Vier Jahre zuvor hatte ihn, zur Überraschung einiger Beobachter, Pierre Bergé, Mäzen und erster Operndirektor der neu gebauten Opéra Bastille, als Nachfolger von Daniel Barenboim an der Seine verpflichtet. Messiaen selbst ko-widmete Chung mit dem „Concert à quatre“ sein letztes Stück. „Ich bin überzeugt, dass all seine Werke Botschaften der Liebe sind.“
Noch prägender als seine Zeit als Pariser Operndirektor sollte jedoch sein Engagement beim Orchestre Philharmonique de Radio France sein. Fünfzehn Jahre lang leitete er dessen künstlerischen Geschicke und führte das „Philhar‘“ aus dem Schatten des ebenfalls unter dem Rundfunk-Dach beheimateten Orchestre National de France. In Deutschland ernannte ihn 2012 die Staatskapelle Dresden zu ihrem Ersten Gastdirigenten – ein Novum in der Historie des Traditionsorchesters.
Die Heimat immer im Blick
Seine asiatische Heimat hat Chung bei alldem nicht aus dem Blick verloren. 1997 vereinte er im Asia Philharmonic Orchestra Musiker aus acht asiatischen Ländern, später gelang es ihm, in Seoul die dortigen Philharmoniker auf die internationale Bühne und zu einem Plattenvertrag mit einem Major Label zu führen. Die wohl intensivste Beziehung unterhält er indes seit bald einem Vierteljahrhundert mit dem Tokyo Philharmonic Orchestra, das er als seine „japanische Familie“ bezeichnet und mit dem er in diesem Herbst erstmals gemeinsam auf Europa-Tournee geht.
2027 soll Chung als erster Asiate den Posten des Musikdirektors an der Mailänder Scala antreten. Mehr als achtzig Opernvorstellungen und 140 Konzerte hat er dort bisher geleitet – so viele wie kein anderer Gastdirigent. Als seine Lieblingsoper führte er jüngst Verdis „Simon Boccanegra“ an. Die Titelpartie verkörpere die idealen Eigenschaften einer großen Persönlichkeit: Großzügigkeit und Warmherzigkeit. Werte, die Chung nicht fremd sind.
Brahms: Klavierkonzert Nr. 1 u. a.
Sunwook Kim (Klavier), Staatskapelle Dresden, Myung-Whun Chung (Leitung)Accentus