Startseite » Porträts » „Musik ist mein Leben. Und mein Leben ist die Musik“

Porträt Leonard Bernstein

„Musik ist mein Leben. Und mein Leben ist die Musik“

Im August wäre Leonard Bernstein hundert Jahre alt geworden – eine Hommage an einen der schillerndsten Dirigenten und Komponisten des 20. Jahrhunderts

vonEva Stratmann,

Es gibt Feste die sind zu schön, um jemals zu vergehen. Die Feier zum 100. Geburtstag von Leonard Bernstein zum Beispiel braucht zwei Jahre, um dem vielschichtigen Charismatiker gänzlich gerecht zu werden. Weltweit finden in dieser Zeit 2.000 Veranstaltungen ihm zu Ehren statt. Am 25. August, dem Tag, an dem der kleine Louis 1918 in Lawrence, Massachusetts, geboren wurde, erleben die Feierlichkeiten ihren Höhepunkt mit Konzerten und Ehrungen auf allen Kontinenten. Leonard Bernstein, wie er sich seit seinem 17. Lebensjahr nannte, war Komponist, Dirigent, Humanist und einer der bedeutendsten Musikpädagogen der USA. Obendrein Abenteurer, Entertainer, Enfant terrible, Visionär, Philosoph, schlechter Autofahrer. Sein schöpferisches Werk umfasst Musicals, Operetten, Sinfonien, Opern sowie Filmmusiken und Literatur.

Die größte Passion von Leonard Bernstein war die Weitervermittlung seiner Leidenschaft für Musik an junge Menschen

Zudem war er einer der gefragtesten Dirigenten für Tonaufnahmen – seine unzähligen Einspielungen setzen bis heute Maßstäbe. Mit seinem Taktstock schrieb er Generationen von Nachwuchstalenten ins Bewusstsein, worauf es ankommt: wahrhaftig zu sein und mit ganzem Herzen zu musizieren. Er lebte es ihnen vor. Mit nicht enden wollenden Proben schuf er Erlebnisse, erzeugte eine Atmosphäre, bei der jeder spürte: „Das hier ist etwas ganz Besonderes.“ Er selbst sagte über sich: „Die Musik ist mein Leben, und mein Leben ist die Musik.“ Für seine überschwängliche Leidenschaft war er bekannt, so dass ihm ein Freund vor einer Privataudienz bei Papst Paul VI. per Telegramm die Notiz zukommen ließ: „Denk dran: Küss den Ring und nicht die Lippen.“

Leonard Bernstein
Leonard Bernstein © Silvia Lelli/DG

Doch so sehr er das lustvolle Leben eines Bonvivants liebte, Bernsteins größte Passion war wohl die Weitervermittlung seiner Leidenschaft für Musik an junge Menschen. Sein Wirken als Pädagoge spiegelt sich in der legendären TV-Serie „Young People’s Concerts with the New York Philharmonic“ wider, ein Beitrag zur musikalischen Erziehung und Förderung von Kindern. Durch seine aktive Rolle beim Tanglewood Festival hat er fünfzig Jahre lang Generationen von professionellen Musikern beeinflusst.

Bernstein nahm nach dem Weltkrieg als erster US-amerikanischer Dirigent die Einladung nach München an. Die Musiker des Staatsorchesters hatten Vorbehalte gegen den 29-jährigen jüdischen Amerikaner und zollten ihm kaum Respekt. Doch nach einer halben Stunde gemeinsamen Probens hatte er Ablehnung in Bewunderung verwandelt. Der „Hexenreiter“, wie man ihn fortan nannte, hatte alle Herzen erobert.

Folgenschwere Flunkerei

Bald war er in ganz Deutschland bekannt, wobei er nicht nur in angesehenen Konzerthäusern dirigierte, sondern auch kulturelles Brachland erschloss. 1985 wollte Bernstein nach Gran Canaria, um sich auf der Finca von Justus Frantz zu erholen. Doch Frantz überzeugte ihn: „In Schleswig-Holstein ist es noch schöner! Auf Gran Canaria regnet es Bindfäden, aber in Schleswig-Holstein scheint die Sonne und die Leute baden im Meer.“  Eine faustdicke Flunkerei, die sich aber bewahrheiten sollte: Als Bernstein in Hamburg aus dem Flugzeug stieg, zeigte sich der Sommer von seiner schönsten Seite. „In diesem Sommer wurde der Grundstein für das Schleswig-Holstein Musik Festival gelegt“, erinnert sich Dr. Matthias von Hülsen, Gründungsmitglied des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF). Leonard Bernstein verliebte sich in die Region, und so kehrte er die folgenden vier Sommer immer wieder hierher zurück, versprühte internationales Flair und verwandelte Kuhställe und Bauernhöfe in Konzertsäle. Er arbeitete unermüdlich, leidenschaftlich – und ohne Honorar.

Leonard Bernstein
Leonard Bernstein © Susesch Bayat/DG

Lernen von Lenny

Die Karriere von Oliver Wenhold, heute zweiter Solo-Cellist des WDR Funkhausorchesters, wurde 1988 im Jugendorchester des SHMF von Leonard Bernstein auf den Weg gebracht. Bis heute erinnert sich der Cellist an die sechs Wochen, die sein Leben prägen sollten und an seine erste Begegnung mit dem Großmeister: „Wie jeden Morgen kamen wir für die Probe zur Konzertscheune in Salzau. Wir wussten: Heute würde uns Leonard Bernstein zum ersten Mal selbst dirigieren. Er war schon damals eine lebende Legende, und mit Herzklopfen wartete ich, was passiert. Ein nicht allzu groß gewachsener Mann stand auf einmal neben mir in der Scheune. In seinem bestickten, braunen Wildlederanzug mit langen Fransen sah er aus wie Old Shatterhand im Winnetou-Film und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Das war er! Die ‚Rauchen verboten’-Schilder an den Wänden kümmerten ihn nicht. Er sprach ja kein Deutsch. Und seine Regeln stellte er selbst auf. Die erste Probe war schwer für uns und Lenny war ein ungnädiger, strenger Lehrer. Nichts ließ er seinen Schülern durchgehen und probte, bis alles gut klappte. Musste es sein, dann dauerte das eben bis in die Nacht.“

Leonard Bernstein probt mit dem Festivalorchester des Schleswig-Holstein Musik Festivals 1988
Leonard Bernstein probt mit dem Festivalorchester des Schleswig-Holstein Musik Festivals 1988 © Friedrun Reinhold

Heute ist Oliver Wenhold ein erfahrener Konzertmusiker, doch kann er sich kaum vorstellen, dass die Erlebnisse über dreißig Jahre zurückliegen. „Seine natürliche Autorität hat uns ganz von selbst dazu gebracht, am Abend allein auf unseren Zimmern weiter zu üben. Von ihm dirigiert zu werden war anders: Er tanzte die Noten, er zeigte die Musik mit seiner Mimik. Er dirigierte mit Augenbrauen, Mundwinkeln und mit dem Blick. Wurde die Musik leidenschaftlich, hüpfte er auf seinem Podium in die Luft. Und wenn es ihm nicht passte entglitt ihm ein: ‚That sounds like Schmierseife!’“

Auch Wenholds Schilderungen werden leidenschaftlicher: „Im Moment des Konzerts kam die nächste Überraschung: Viele Dirigenten steigern sich im Laufe eines Konzertes. Aber Leonard Bernstein zog die Menschen in seinen Bann, sobald er die Bühne betrat. Er hatte den ganzen Saal in seiner Hand, das Publikum lag ihm zu Füßen. Seine Präsenz und sein Charisma waren einfach unfassbar! Ich weiß nicht, wie viele Leben er in ein Leben gesteckt hat. Er muss zehn Leben gehabt haben. Er war so intensiv. So wahr. Und auf unserer Tournee machte er uns alle zu Popstars. Trauben von Fans umringten ihn und damit auch uns junge Musikstudenten. Sein Glanz fiel auf uns ab wie goldener Staub. Binnen Sekunden waren wir Stars, die Autogramme geben mussten.“

„Ode an die Freiheit“

Bernsteins Musik trug stets eine gesellschaftskritische, ja politische Botschaft, verbunden mit einem Appell in sich. Mit seinem bekanntesten Werk, dem Broadway-Musical „West Side Story“ übertrug er Shakespeares Drama „Romeo und Julia“ in die Neuzeit und machte es damit dem breiten Publikum zugänglich. Zugleich kämpfte das Kind jüdischer Einwanderer aus Riwne in der heutigen Ukraine mit seinen musikalischen Waffen gegen Rassismus und Ungleichheit. In „Candide“ etwa übersetzte er Voltaires Klassiker der Gesellschaftskritik in eine schwungvolle Anklage gegen die Hexenjagd auf „Kommunisten“ in der McCarthy-Ära.

Leonard Bernstein, 1987
Leonard Bernstein, 1987 © Thomas R. Seiler

Auch Kirchenmusikalisches findet sich in Bernsteins Œuvre mit dem Musiktheaterstück „MASS“ als religiöse Selbstprüfung seiner Nation. Bernstein folgte seiner Mission: Er wollte die trennenden Mauern zwischen den Menschen einreißen. Sein Einsatz für den Frieden war beispiellos. Sein Konzert „Ode an die Freiheit“ zu Weihnachten 1989 anlässlich des Berliner Mauerfalls war, ein Jahr vor seinem Tod, ein glanzvoller Höhepunkt dieses Engagements. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ergänzte er dafür mit Musikern aus den berühmten Orchestern der Befreiungsmächte USA, Großbritannien und Frankreich, um Beethovens neunte Sinfonie zu interpretieren. Nach dem Konzert fuhr er mit dem Taxi zur Mauer hinter dem Berliner Reichstag, borgte sich einen Hammer und schlug einige Stücke aus der Mauer, um sie zu verschenken.

„Lenny war ein Quell der Schöpfung und Einfälle. Er war voller Ideen und er hatte noch so viel zu leben und erlebbar zu machen“, schildert Justus Frantz seinen langjährigen Freund. „Doch in seiner intellektuellen Durchdringung der Welt vergaß er die ganz einfachen Dinge um sich herum“, berichtet er weiter. Das zeigte sich zum Beispiel beim Autofahren. „So viele in Mitleidenschaft gezogene Autos habe ich nie mehr gesehen.“ Beim Porschefahren vergaß Bernstein die Kupplung zu treten, so dass er einmal sogar den Schaltknüppel abbrach. Die weiß gekalkten Steine am Wegesrand nahm Bernstein beim Abbiegen gern einmal mit – und bei anderer Gelegenheit kam er in Kalifornien während einer Cabriofahrt bei 160 Stundenkilometern auf die Idee, das Verdeck per Knopfdruck zu öffnen. Das Dach flog davon und ward nie mehr gesehen.

Momente unbändiger Fröhlichkeit

Als Bernstein einmal während des jüdischen Laubhüttenfests zu Gast in Justus Frantz’ Finca war, feierte er spontan eine Segnungszeremonie des Gartens: Er brach einen Zweig vom Baum, startete die Begehung des Grundstücks, betete den dazugehörigen Tora-Text auf Hebräisch und segnet Palmen, Zitronenbäume und Bougainvilleen. Justus Frantz und Christoph Eschenbach schritten dicht hinter ihm her, gefolgt von einer Prozession spanischer Arbeiter, die – voller Unverständnis für das, was um sie geschieht – sich wild bekreuzigend hinter ihnen herliefen.

Leonard Bernstein und Justus Frantz, 1986
Leonard Bernstein und Justus Frantz, 1986 © Thomas R. Seiler

Justus Frantz erinnert sich oft an gemeinsame Zeiten mit seinem engen Freund. Bernstein liebte es, sich der sorglosen Zeitlosigkeit auf Gran Canaria hinzugeben und dort zu komponieren. Viele seiner Werke verfasste er dort – unterbrochen von Schachpartien, Tennis und vierhändigem Klavierspiel. „Ich kenne keinen Menschen, der so viel Lebensfreude und Inspiration in sich hatte wie er“, berichtet Frantz. „Lenny konnte jede Sekunde seines Lebens ausfüllen und andere mit seinem Enthusiasmus anstecken. Zur Vorbereitung auf seine Norton Lectures, die er an der Harvard Universität unter dem Titel „The Unanswered Question“ abhielt, kam er mit einem mannshohen Bibliothekskoffer angereist, in dem er alle notwendige Literatur zur Erarbeitung seiner Vorträge verstaut hatte. Und nach dem Abendessen entstanden spontane Gesprächsrunden, in denen wir bis in die Nacht mit Freunden über alle möglichen Themen philosophierten. Lenny hatte ein wirklich enzyklopädisches Wissen.“

Ebenso kam es aber vor, dass Bernstein beim abendlichen Paella-Essen die Köchin hinter dem Herd hervorzog, an sich drückte und einen feurigen Flamenco quer durch das Esszimmer tanzte. Doch in den Momenten unbändiger Fröhlichkeit legte sich ein Schatten der Melancholie auf Bernsteins Gemüt: Er war sich der Endlichkeit des Lebens durchaus bewusst. Oft sang er den Text des amerikanischen Volksliedes „Where shall we be a hundred years of time? Pushing up the daisies“, der in den USA oft zur Melodie von Chopins „Trauermarsch“ gesungen wurde.

Leonard Bernstein am Flügel in der Finca von Justus Frantz
Leonard Bernstein am Flügel in der Finca von Justus Frantz © privat

Das letzte Konzert

Craig Urquhart, heute selbst Komponist und Berater der Bernstein Foundation, arbeitete viele Jahre für Leonard Bernstein und war sein letzter persönlicher Assistent. Er begleitete ihn zu Konzerten mit den Wiener Philharmonikern, zur Gründung des Pacific Music Festivals, nach London zum Konzert der Queen und vielem mehr. „Lenny gab einem das Gefühl, der einzige und der wichtigste Mensch zu sein. Er war auf sein Tun fokussiert, war immer freundlich, und seine Arbeit war einfach genial. Unsere Tour durch Japan 1990 mussten wir schließlich abbrechen. Lenny zog sich zurück, um zu genesen. Doch ich wusste, er verabschiedet sich von dieser Welt. Ich musste es mit ansehen und durfte als enger Vertrauter mit niemandem darüber sprechen. Das war sehr schwer für mich.“

Am 19. August dirigierte Leonard Bernstein sein letztes Konzert mit dem Boston Symphony Orchestra. Es war bei der Tanglewood Sommerakademie, wo er auch sein erstes Konzert gegeben hatte. Er dirigierte Beethovens siebte Sinfonie, die einen Trauermarsch enthält. Er gestaltete es mit seinen letzten Kräften. Als er von der Bühne gegangen war sagte er: „It’s over.“
 Bernstein wusste, dass er seine eigene Trauermusik spielte. Während des Konzerts erlitt er einen Schwächeanfall, konnte aber all seine Energie noch ein letztes Mal zu einem allerletzten Finale furioso bündeln.

Zwei Tage vor Bernsteins Tod schließlich besuchte ihn Justus Frantz in New York. „Ich muss mich ausruhen. Ich bin so unglaublich müde,“ sagte Bernstein zu seinem alten Freund. Und beide wussten, dass es ihre letzte Begegnung werden würde. Am 14. Oktober 1990 starb das wohl größte Musikgenie des 20. Jahrhunderts. Dass die hundertste Wiederkehr seines Geburtstags gleich zwei Jahre lang als nicht abreißende Kette von Bernstein-Ehrungen begangen wird: Das hätte dem feierfreudigen Lenny gewiss gefallen.

Die ganze Welt feiert Leonard Bernsteins 100. Geburtstag:

You are currently viewing a placeholder content from YouTube. To access the actual content, click the button below. Please note that doing so will share data with third-party providers.

More Information

Buch-Tipp

Album Cover für
Leonard Bernstein
I fell in love with Schleswig-Holstein

Christian Kuhnt & Alexander Bernstein (Hrsg.)
Wachholtz (127 Seiten)

Auch interessant

Rezensionen

  • Asya Fateyeva steht mit Hingabe für die Vielseitigkeit ihres Instruments ein.
    Interview Asya Fateyeva

    „Es darf hässlich, es darf provokant sein“

    Asya Fateyeva, Porträtkünstlerin beim Schleswig-Holstein Musik Festival, spricht über den Reiz und die Herausforderungen des für die Klassik so ungewöhnlichen Saxofons.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!