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Opern-Feuilleton: Mieczysław Weinberg

Schönheit wagen

Zum 100. Geburtstag des polnischen Schostakowitsch-Freundes Mieczysław Weinberg erlebt nicht nur seine Oper „Die Passagierin“ eine fulminante Renaissance.

vonPeter Krause,

„Die Schönheit ist nicht tot. Sie fiel in Ungnade.“ Die Worte des Fürsten ­Myschkin aus Mieczysław Weinbergs Oper „Der Idiot“ nach Dostojewskis Roman lassen sich geradewegs auf die Musik jenes Jubilars beziehen, dessen 100. Geburtstag Theater und Konzertveranstalter in diesem Jahr fast etwas verschämt feiern. Beinahe hätten sie Weinberg vergessen. Doch für ein Genie ist es nie zu spät. „Meine Zeit wird kommen“, orakelte einst auch Gustav Mahler. Für Weinberg scheint die Zeit nun eindeutig reif.

Doppelte ideologische Verblendung verstellte lange den Blick auf den 1919 in Warschau geborenen Meister, der nicht nur mit einer Fülle an Sinfonien und Streich­quartetten, Filmmusiken und Liedern begeistert, sondern auch mehr Werke fürs Musiktheater hinterließ als der Mann, der ihn entschieden förderte und als dessen Epigone er bis heute fälschlicherweise gilt: Dmitri Schostakowitsch. Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1939 in Polen musste Weinberg als Sohn eines jüdischen Kapellmeisters gen Osten fliehen. Schostakowitsch holte ihn nach Moskau, drückte ihm die Textvorlage für sein 1968 entstandenes Hauptwerk „Die Passagierin“ in die Hand und setzte sich für dessen Uraufführung ein, zu der es freilich erst mit 42-jähriger Verspätung kam – bei den Bregenzer Festspielen 2010 in der Regie des damaligen Intendanten David Pountney.

Mieczysław Weinberg

Verdächtige Dur-Akkorde

In der Sowjetunion galt der polnische Jude Weinberg als verdächtig, das System hielt ihn an der kurzen Leine; und im Westen, wo Schostakowitsch, Schnittke und Gubaidulina eine immer breitere Rezeption erfuhren, entsprach seine Kunst nicht den ungeschriebenen, doch nicht minder gültigen Doktrinen der gängigen Avantgarde. Diskurswächter wie der Musik­philosoph Theodor W. Adorno achteten darauf, dass auf den Zivilisationsbruch des faschistischen Deutschland nunmehr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs künstlerisch mit einem konsequenten Traditionsbruch reagiert wurde. Sinnlichkeit zu wagen, angeblich affirmative Dur-Akkorde zu schreiben, galt den Serialis­ten als verdächtig, gestrig, regressiv.

Dabei ist Weinberg alles andere als ein rückwärtsgewandter Schöntöner. Doch Schönheit hat bei ihm noch eine Chance. Unzeitgemäß ist er mitnichten. Vielmehr wagte er es, als es die Welt im Westen wie im Osten zu neuen kapitalistischen respektive kommunistischen Utopie­ufern drängte, den Opfern und Tätern einer seinerzeit erfolgreich verdrängten Ära des Grauens künstlerisch Stimme und Gestalt zu verleihen.

Mieczysław Weinberg
Mieczysław Weinberg

Vielgestaltige Partitur mit romantischen Wurzeln

„Die Passagierin“ erzählt von einer Aufseherin von Auschwitz, die auf einem Schiff nach Brasilien eine KZ-Insassin wiederzuerkennen glaubt und fürchtet, erkannt worden zu sein. Die zufällige Begegnung ruft die Geister von einst – und baut den beiden Frauen wie auch dem Publikum einen Bewusstseinsraum der Erinnerung, ohne das scheinbar Unsagbare je zu verniedlichen. Denn die Musik gleicht einer puren, postmodernen, polyglotten Dialektik des 20. Jahrhunderts. Weinberg zitiert und parodiert Bach und Beethoven, Mahler und Schostakowitsch, russische Folklore, Jazz und Chanson. Die unerhört vielgestaltige Partitur verleugnet nicht ihre romantischen Wurzeln, ist dabei filigraner als jene seines sowjetischen Mentors, gewagter als jene des englischen Zeitgenossen Benjamin Britten – letztlich von eigenständiger Nähe zu allen anderen Größen der Zeit. Die späte Uraufführung zählt zu den bedeutendsten Sensationen der Opernwelt des 21. Jahrhunderts. Das Jubliäumsjahr 2019 vertieft die wichtige Weinberg-Renaissance, zumal mit Aufführungen von „Die Passagierin“, die bis nach Tel Aviv reichen, sowie dem seinem gesamten reichen Schaffen gewidmeten Festival des Jewish Chamber Orchestra in München.

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