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Interview Oksana Lyniv

„Man kann auch mit Fieber dirigieren“

Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv hat in wenigen Jahren den Sprung nach ganz oben geschafft.

vonHelge Birkelbach,

Tja, wenn das neue Visum nicht gewesen wäre. Der Telefontermin mit der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv musste kurzfristig um einen Tag verschoben werden, weil sie der postalischen Zustellung nicht traute. Lieber fuhr sie noch vor dem Wochenende nach Frankfurt, um das wertvolle Dokument persönlich abzuholen. Am Samstagnachmittag hatte sie dann Zeit für ein entspanntes Interview.

Ihre Eltern waren erst mal nicht davon begeistert, als Sie sich mit etwa achtzehn Jahren entschieden, Dirigentin zu werden.

Oksana Lyniv: Ja, stimmt. Mein Vater wollte, dass ich Musiklehrerin werde, wie meine Mutter. Er sagte, das sei ein richtiger Beruf für eine Frau, nicht Dirigentin. Aber ich war von meiner Entscheidung nicht abzubringen. Alle in meiner Familie, sogar meine Musikerkollegen, waren skeptisch, als ich mein Studium in Lwiw begann. Als Frau habe man sowieso keine Zukunft in diesem Beruf, meinten sie. Nun ja, jetzt sehen wir, dass die Zeiten sich verändert haben. So richtig stolz waren meine Eltern, als ich Chefdirigentin der Grazer Philharmoniker und der Oper Graz wurde. Das war 2017, nach meiner Assistenz bei Kirill Petrenko an der Bayerischen Staatsoper.

Musik bringt Menschen zusammen. Was ist die größte Herausforderung als Dirigentin, diesen Zusammenhalt zu ermöglichen und zu festigen?

Lyniv: Der Dirigentenberuf ist komplex, denn man kann den Musikern, die individuell und ganz verschieden sind, nichts aufzwingen. Ich kann die besten Ideen haben, aber wenn ich das auf schlechte Weise kommuniziere oder wenn ich gar Fehler mache, dann wird es nicht ankommen. Und das ist die größte Herausforderung. Ich muss inspirieren, damit die Magie erhalten bleibt, und gleichzeitig Leader sein und die Verantwortung übernehmen.

Was tun Sie, wenn Sie bei den Proben merken, dass sich diese Magie gerade nicht einstellt?

Lyniv: Da muss man äußerst sensibel sein. Wenn man merkt, dass die Konzentration schon ein bisschen runterfällt, dann kann es sein, dass die Musiker ganz einfach müde vom Vortag sind, nach einer anstrengenden Aufführung mit einem anderen Dirigenten, mit einem völlig anderen Repertoire. Es hängt ja nicht immer nur mit mir oder mit meinem Projekt zusammen. Manchmal hilft Humor, oder ich drossle die Intensität der Probe, nehme die Hektik heraus. Oder ich sage kurz etwas über das Stück: Was mir als Dirigent besonders am Herzen liegt und warum ich es für das Programm ausgesucht habe. Schon klingt alles anders, als wenn man einfach nur harsch unterbrechen würde. Meine persönliche Regel lautet, erstmal durchspielen zu lassen, also sogar eine ganze Sinfonie, wenn ich zum ersten Mal mit einem Orchester probe. Das gilt natürlich nur für Standardrepertoire, nicht zeitgenössische Musik. Es geht darum, einen nonverbalen Kontakt herzustellen. Beim ersten Durchspiel sieht man schon sehr gut, an welchen Punkten man besonders arbeiten muss und welche Sätze von alleine, von Anfang an gut funktionieren.

Bei zeitgenössischen oder unbekannten Stücken ist es wahrscheinlich immer hilfreich, etwas zu erläutern.

Lyniv: Ja, genau. Mit dem Cleveland Orchestra werde ich ein ukrai­nisches Stück aufführen, eine sinfonische Dichtung von Boris Ljatoschynskyj. Ich glaube, es wird sogar zum ersten Mal in Amerika gespielt. „Grażyna“ stammt aus dem Jahr 1955. Es basiert auf einem Erzählgedicht von Adam Mickiewicz, veröffentlicht 1823, und handelt von einer Heldin in der Art der Jeanne d’Arc. Grażyna stellt sich als Anführerin gegen den Orden der Deutschen Ritter, getarnt in der Rüstung ihres Mannes. Sie wird gefasst und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. In der Komposition erklingt an dieser Stelle ein Trauermarsch in Moll, der aber plötzlich ins strahlende Dur wechselt. Ich erkläre den Musikern, dass das symbolisch zu verstehen ist. Sie stirbt zwar, aber ihr Ruhm als Heldin bleibt ewig. Helden sterben nicht. Es ist wichtig, dieses Bild vor Augen zu haben, denn dann kann man die Überraschung entsprechend artikulieren, wenn sich der Trauermarsch-Rhythmus in die Fanfaren des Triumphs verwandelt.

„Je früher die Musiker die Orchesterarbeit kennenlernen und erste berufliche Schritte machen, desto besser“, sagt die ukrainische Dirigentin
„Je früher die Musiker die Orchesterarbeit kennenlernen und erste berufliche Schritte machen, desto besser“, sagt die ukrainische Dirigentin

Irritiert Sie das manchmal, wenn man jetzt schon in der Programmplanung über Jahreszahlen wie 2028 oder 2030 spricht?

Lyniv: Irgendwie schon. Aber auf der anderen Seite gibt uns das als Künstler eine gewisse Sicherheit – wenn es sowas in diesen unruhigen Zeiten überhaupt noch gibt. Man wird gebucht, das heißt, dass man Arbeit hat und es weiterläuft. Auf der anderen Seite kann man natürlich nie wissen, wie man sich gerade in dem Jahr fühlt, was gerade mit deiner Familie passiert. Es ist schwer vorauszusehen, ob man eine Pause zu der Zeit braucht oder man plötzlich krank wird. Zum Glück passierte das in meiner bisherigen Karriere äußerst selten. Als Dirigent bist du auch ganz anders von deiner physischen Kondition abhängig als zum Beispiel als Sänger. Man kann auch mit Fieber dirigieren, das habe ich tatsächlich schon gemacht. Man nimmt Aspirin, hält aus Rücksicht Abstand zu den Kollegen, geht zum Pult und legt los. Die Verantwortung in dem Moment ist dann größer als das eigene Wohl­befinden. Mir muss es schon wirklich sehr, sehr schlecht gehen, um zuhause zu bleiben. Gerade bei großen Opern­produktionen, wo es auf jeden Probentag mit dem Orchester, den Sängern und der Regie ankommt, ist es wichtig, die ganze Produktion nicht zu ­gefährden. Ich sage nur sehr ungern ab.

Wenn man so viel unterwegs ist wie Sie, hat man mit enorm vielen Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen zu tun und muss mit ihnen kommunizieren. Was ist die größte Herausforderung bei all diesen ganz unterschiedlichen Orchestern, Menschen, Kulturen?

Lyniv: Eine der großen Herausforderungen ist natürlich zu verstehen, dass in jedem Land unser Betrieb auf andere Weise funktioniert. Das beginnt schon mit der Disposition der Arbeitsphasen, mit Pausen, Anzahl und Länge der Proben und so weiter. In den USA oder Großbritannien zum Beispiel hat man für ein ganzes Sinfonieprogramm nur zwei Proben zur Verfügung und dann die Generalprobe. Dort man geht davon aus, dass die Orchestermusiker fast hundertprozentig selbst vorbereitet sind. Also geht es nur um die Details und deine Interpretation als Dirigent. In Deutschland dagegen hat man viel mehr Zeit noch einmal zu wiederholen, einzelne Stellen gemeinsam zu analysieren und wirklich in den Proben zu arbeiten. Und natürlich spielt die Mentalität eine große Rolle, weil die Kommunikation anders läuft. In Italien passiert mehr auf spontaner Ebene, es ist emotionaler und es kann auch mal vorkommen, dass die erste Bühnenorchesterprobe nicht pünktlich anfängt. Wenn ich das sofort zu kritisieren beginnen würde, könnte es genau das Gegenteil bewirken. Da muss man flexibler sein und mit einem Smile einfach mal fragen, was gerade ansteht.

Sie arbeiten auch gerne mit Jugendorchestern zusammen und haben selbst eins gegründet. Was hat Sie dazu motiviert?

Lyniv: Ich bin eine leidenschaftliche Verehrerin des Jugendorchestersystems, das ich in Deutschland kennengelernt habe. In der Ukraine gab es sowas damals noch nicht, als ich Assistentin von Kirill Petrenko war. Meine Karriere stand ja noch am Anfang, ich war sozusagen selbst näher dran an der jungen Generation. Das hat mir vielleicht auch die Kommunikation erleichtert, als ich das Jugendsinfonieorchester der Ukraine initiierte und begann, es als Chefdirigentin zu leiten. Je früher die Musiker die Orchesterarbeit kennenlernen und erste berufliche Schritte machen, desto besser. Bei uns können sie bereits mit vierzehn Jahren starten und dann im Idealfall insgesamt neun Jahre Erfahrung sammeln. Es ist hilfreich für ihr Studium oder später, wenn sie von Orchestern zu Auditions eingeladen werden. Denn sie bringen einen großen Erfahrungsschatz mit, haben gleichzeitig aber auch jene Ideale, die junge Menschen antreiben. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die jungen Musiker maximal offen sind und maximal leidenschaftlich, denn sie stehen ja erst am Anfang, das eigene Leben und ihre Karriere aufzubauen. Das bedeutet für mich als Dirigentin eine große Verantwortung, wenn sie erstmals in ihrem Leben eine Sinfonie von Beethoven oder Schumann spielen. Ich versuche, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass wir alle Team­player sind, vom Dirigenten bis zum Tutti, von der Violine bis zur Pauke. Von jedem Einzelnen hängt das Ergebnis ab. Wir kommen alle zusammen und erreichen etwas Unglaubliches. Das ist ein wunderbares Gefühl, auch für mich als Dirigentin.

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