Interview Jean-Yves Thibaudet

„Warum müssen Männer aussehen wie Pinguine?“

Statt Frack zu tragen, lässt sich Pianist Jean-Yves Thibaudet seine Bühnengarderobe lieber von der exzentrischen Designerin Vivienne Westwood schneidern

© Kasskara/Decca

Jean-Yves Thibaudet

Rote Socken zu Versace-Anzügen: Ende der 90er Jahre sorgte Jean-Yves Thibaudet mit solchen Auftritten für ähnlich viel Furore wie als poetisch-brillanter Interpret der Werke Ravels und Debussys oder sensibler Begleiter von Cecilia Bartoli. Heute, beteuert der deutsch-französische Pianist, sei er „konservativer“ – doch die Mode liebe er nach wie vor. Und der Wahlamerikaner findet sogar Parallelen zwischen Designern und Komponisten.

Ihr Kollege und Landsmann Pierre-Laurent Aimard sagt, er denke und fühle in unterschiedlichen Sprachen: Gehe es um Emotionen auf Französisch – gehe es um Philosophie, dann auf Deutsch … Wie ist das bei Ihnen?

Oh! Dann scheine ich wohl weder etwas zu fühlen noch allzu sehr zu denken und zu philosophieren … denn ich spreche fast nur Englisch. Interviews sind für mich auf Englisch mittlerweile viel leichter als auf Französisch. Da müsste ich zu viel darüber nachdenken, ob ich denn auch das richtige Wort finde. Ich lebe ja seit sehr vielen Jahren in den USA.

Aber Ihre Mutter ist Deutsche, Ihr Vater Franzose …

… und ich bin mit Französisch und Deutsch aufgewachsen. Als Kind sprach ich Deutsch sehr oft und flüssig – aber mit der Zeit bin ich bequem geworden. Auch wenn ich heute Französisch spreche, wird alles sehr technisch, ich muss mich anstrengen. Ich bedaure es manchmal, aber so ist es eben.

Wie viele Pässe haben Sie?

Drei französische! Nein, nur zwei – andernfalls bräuchte ich ein Visum. Ich habe einen französischen Pass und bin amerikanischer Bürger. Ich hätte auch einen deutschen Pass haben können, aber was soll’s? Ich brauche ihn ja nicht. Ich lebe schon lange in Los Angeles nach zuvor zwölf Jahren in New York.

Was schätzen Sie an der Stadt?

Das warme Klima, das ist sehr wichtig für mich. Und die Qualität des Lebens: Der Lifestyle gefällt mir hier sehr gut. Es gibt viele Vorurteile über Los Angeles doch nur wenige Europäer wissen, wie sehr sich die Stadt in den letzten Jahren verändert hat.

Inwiefern?

Los Angeles ist eine der saubersten Städte überhaupt, ohne die Luftverschmutzung etwa von Paris. Dann die Kultur! Viele denken, hier gäbe es nur Hollywood und schöne Menschen: Die gibt es natürlich auch, aber es gibt zudem ein sehr großes und interessantes Musikleben, eine Oper und viele Theater und Museen. Ich habe eine sehr enge Bindung an die Colburn School, bin hier Artist in Residence. Es ist ein wunderbarer Ort zum Leben.

Sie haben also keine Sehnsucht nach „Good Old Europe“?


Manchmal schon, das gebe ich zu – und dann fliege ich auch hin. Man kann nirgendwo alles haben.

Aufgewachsen sind Sie in Lyon …

… ja, und mit zwölf ging ich zur weiteren Ausbildung nach Paris. Meine Großeltern mütterlicherseits lebten in Bielefeld, deshalb war ich in den Ferien oft dort: Wir hatten eine sehr enge Beziehung. Meine Mutter war Deutschlehrerin, unterrichtete Juristen und Geschäftsleute in ihrem Fachvokabular. Und auch mein Vater, ein Politiker und Diplomat, lehrte an der Universität: Sie waren beide Akademiker und liebten die Musik sehr.

Ihre Mutter soll Ihnen auch 
den ersten Klavierunterricht gegeben haben.


Nein, so war es dann doch nicht. Meine Mutter begleitete mich zu den Klavierstunden und half mir ein bisschen zu Hause, denn sie konnte auch etwas spielen. Mein Vater aber war tatsächlich ein ziemlich guter Amateurgeiger, die Eltern musizierten oft zusammen. Schon als ich sehr klein war, nahmen sie mich zu Konzerten mit: Musik war immer Teil meines Lebens.

Wie haben sich die Mentalitäten Ihrer Eltern auf Ihre Persönlichkeit ausgewirkt?

Als meine Eltern Ende der 50er Jahre heirateten, war die Welt noch nicht so tolerant und globalisiert wie heute – und es war für beide nicht immer einfach. Heute glaube ich, dass es ein großes Geschenk für ein Kind ist, wenn es mit mehreren Mentalitäten aufwächst: Man hat so viele Möglichkeiten. Meine Eltern ergänzten sich: Mein Vater war der typisch mediterrane Typ, mit der großen Allüre, dem Charisma – meine Mutter wiederum war sehr organisiert und diszipliniert. Alles Klischees, ich weiß, aber so ist es einfach! Die Deutschen sind wesentlich organisierter als die Franzosen – und beides war wichtig für mich und meinen Werdegang.

Vom Vater die Statur, von der Mutter die Natur … oder umgekehrt?

Ich glaube, ich habe sogar mehr von meinem Vater: Dieses nach außen Wirken, das Charisma, mit den Menschen zu kommunizieren – doch ohne die Disziplin und den Ordnungssinn, den meine Mutter hatte, wäre mir eine Karriere als Pianist nicht gelungen: Das weiß ich.

Ihr Hang, sich wie ein Dandy zu kleiden, Ihre Liebe zur Mode, stammt aber nicht aus Bielefeld.

Nein! Nein, die Liebe zur Mode stammt eher, wenn überhaupt, von der französischen Seite.

Sie haben rote Socken zu Anzügen von Gianni Versace getragen, später entwarf dann Thierry Mugler Ihre Roben.

Was haben mich die Menschen, vor allen Dingen im deutschsprachigen Raum, kritisiert und angefeindet und mich für oberflächlich gehalten, nur weil ich als Mann besonders extravagante Kleidung und Schmuck trug! Das war sehr schlimm für mich. Warum müssen wir Männer immer den gleichen Frack tragen und aussehen wie Pinguine, während man bei den Frauen toleranter ist? Der klassische Musikbetrieb ist schon sehr konservativ, sehr traditionell, und deshalb für die junge Generation oft sehr langweilig.

Gleichzeitig hat Ihr Faible für Mode und Schmuck Ihnen auch eine große mediale Aufmerksamkeit verschafft …

… und leider oft darüber hinweggetäuscht, dass ich eigentlich ein Pianist bin, der ziemlich hart arbeitet.

Bei Liszt oder Wagner, die bekanntlich auch schöne Kleidung mochten, war die Öffentlichkeit da nicht so kategorisch – woher rührt diese Abkanzelung?

Ich weiß es nicht. Ich liebe nun mal modische Kleidung – ich erinnere mich daran, wie ich bereits mit neun bei meinem ersten Auftritt wusste, was ich tragen wollte, und in dem Geschäft, wo wir die Ausstattung kauften, meiner Mutter und meiner Schwester ziemlich auf die Nerven gegangen bin …

… damals, als Sie mit Ravels G-Dur-Konzert debütierten.

Ja. Übrigens verlangt Ravel von jedem Musiker eben das, was auch ein guter Designer haben muss …

… nämlich was?

Präzision und Genauigkeit. Ravel wird oft mit viel Pedal gespielt, alles wird verunklart – dabei mochte er das gar nicht. Meine Lehrerin Lucette Descaves, die Ravel noch kennengelernt hatte, holte immer die Noten hervor und zeigte mir, was er dazu notiert hatte: die Tempi, die Vortragsanweisungen – alles sehr organisiert und sehr genau. Jede Note sollte klar, transparent und exakt wiedergegeben werden – so, wie Ravel sie notiert hatte.

Sie sollte also „sitzen“ wie ein Kleid oder Anzug.


Ja, genau – Sie sagen es! Designer sind Künstler wie Komponisten und Interpreten – nicht nur in ihrer Wahrnehmung der Dinge und in ihren Visionen. Sie wünschen, ihre Träume wie auch die Träume anderer umzusetzen. Und das geht, so widersprüchlich es erscheint, nur mit Präzision und dem genauen Wissen, wohin man gehen will.

Ist es da von Vorteil, wenn Designer wie Vivienne Westwood, die derzeit manches Teil Ihrer Garderobe schneidert, auch einen Sinn für Klassik haben?

Oh ja! Sie liest viel, sie liebt klassische Musik, kommt zu den Konzerten, ist ziemlich intelligent und liebt es, leidenschaftlich zu argumentieren.

Ein leidenschaftliches Plädoyer halten Sie für Aram Chatschaturjan, mit dessen Klavierkonzert Sie derzeit auch unterwegs sind – was treibt Sie hier an?

Ich wundere mich, dass es so selten gespielt wird. Es ist sehr kraftvoll, ein Glücksfall in seiner Inspiration: Immer wenn ich es bislang gespielt habe, war das Publikum fasziniert, weil es so intensiv ist. Vor allen Dingen im zweiten Satz ist Zentralasien so richtig zu spüren mit all seinen Gerüchen, seinen Pflanzen und Farben.

Prokofjew sah das anders: „Hier wird der Pianist Fliegen fangen“, hat er über den recht einfach strukturierten Solopart des zweiten Satzes gespottet, den der Komponist ihm zur Begutachtung vorgelegt hatte.

Woraufhin Chatschaturjan dann selbstkritisch den Entwurf revidiert und „zu leichte“ Stellen durch effektvolle Akkorde ersetzt und Skalen eingefügt hat. Natürlich gab es Ende der 30er Jahre modernere Musik als diese; doch gleichzeitig wirkt das Werk sehr instinktiv und natürlich, gleichsam unmittelbar aus dem Herzen. Es ist Musik, die Spaß bereitet und Menschen einfach glücklich macht.

CD-Tipp

Rezensionen

Rezension Midori – Beethoven: Violinsonaten Nr. 1-10

Ordentlich

Viel Schönklang statt Beethovenschem Feuer: Midoris und Jean-Yves Thibaudets Sonaten-Gesamteinspielung überzeugt nur bedingt. weiter

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