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Interview Elisabeth Leonskaja

„Freiheit ja, Narrenfreiheit nein“

Die russische Pianistin Elisabeth Leonskaja über Wien, kurze Fußwege und leises Spiel.

vonHelge Birkelbach,

Wie denn das Wetter in Berlin sei, erkundigt sich Elisabeth Leonskaja. Bei ihr in Wien sei es grau, eher hellgrau. Worauf der Interviewer am anderen Ende der Leitung sagt: Auch grau, aber deutlich ins Dunkle tendierend, also eher ein Zementgrüngrau. Der Hundertste von Loriot hat bei beiden nachhaltlig seine Spuren hinterlassen, wie sich auch noch später im Verlaufe des Gesprächs herausstellt.

Sie leben seit 1978 in Wien. Was gibt Ihnen diese Stadt musikalisch?

Elisabeth Leonskaja: Alles! Die drei großen Häuser, also das Wiener Konzerthaus, der Musikverein und die Staatsoper, arbeiten nonstop. Die Zahl der hier ansässigen Musiker ist fast unüberschaubar. Es wird auf höchstem Niveau musiziert, das Publikum kommt gerne. Es ist wirklich ein Eldorado. Ich liebe diese Stadt, ganz aufrichtig, ohne Wenn und Aber!

Das werden die Wiener sicher gerne hören. Verstehen Sie auch ihren Humor, diesen gewissen Wiener Schmäh?

Leonskaja: Den Schmäh habe ich nicht so gern. Ich mag lieber den Humor, den man weiter im Süden pflegt und der für mich authentischer klingt. Haben Sie schon einmal Iván Fischer zugehört, wenn er redet? Er moderiert ja manchmal Konzerte. Das ist so subtil zwischen den Zeilen, da muss ich immer schmunzeln. Ich denke mir immer: Ja, das ist genau der Humor, wie ich ihn mir vorstelle, diese kleinen sinnigen und unsinnigen Wortspiele, die er so leichtfüßig und fast nebenbei einwirft – aber immer im richtigen Moment.

Da fällt einem natürlich sofort Loriot ein. Mögen Sie Loriot?

Leonskaja: Ja klar. Seine Sketche aus dem Fernsehen kenne ich zwar nicht so gut, aber seine Cartoons und die illustrierten Büchlein. Zum Beispiel seinen „Kleinen Opernführer“, wo er die Handlung diverser bekannter Opern erzählt, von Wagner, Mozart, Verdi, Rossini und so weiter. Ganz wunderbar, wie er die großen Gesten und Übertreibungen lakonisch herunterbricht und teilweise zerlegt. Ein bisschen Anarchie im bürgerlichen Kulturkonsum kann nicht schaden.

Nochmals zurück zu Wien. Wie hat sich denn die Kulturmetropole in den letzten Jahren in Ihrer Wahrnehmung verändert?

Leonskaja: Ich glaube, sie ist jünger und multikultureller geworden. Das tut ihr gut, finde ich. Junge Gesichter zu sehen, die von überall her kommen, belebt den Geist der Menschen und bereichert die Kultur. Nun ja, den modischen Geschmack teile ich nicht immer, zugegeben. Ich mag eher schöne klassische Mäntel und ausgefallene Hüte. Der große Auftritt in Gesellschaft, wenn Sie so wollen, der Charme vergangener Zeiten.

Zum Charme Wiens zählen auch die kurzen Wege. Sie haben einmal gesagt, dass es am schönsten sei, nach einem Konzert einfach zu Fuß nach Hause zu laufen.

Leonskaja: Ja, das habe ich auch gestern Abend so gemacht und das ist wirklich gut. Nach dem Konzert trifft man sich hinter der Bühne, es ist nett und man scherzt ein wenig. Aber nach einem Abend, den man mit so viel Substanz verbindet, möchte man wieder zu sich zu finden und bald das Licht ausmachen.

Dennoch, so hört man, sind Sie wohl ein sehr geselliger Mensch.

Leonskaja: Ja, natürlich. Ich lade auch gerne zu mir ein. So kenne ich es aus Russland und meiner Jugend. Ich freue mich immer, wenn ich Gäste habe. Erstaunlich ist nur, dass ich noch nie bei einem Kollegen eingeladen war. Jedenfalls nicht die letzten vierzig Jahre.

Liebt die Stadt Wien „ganz aufrichtig, ohne Wenn und Aber!“: Elisabeth Leonskaja
Liebt die Stadt Wien „ganz aufrichtig, ohne Wenn und Aber!“: Elisabeth Leonskaja

Das kann nicht sein! Da sollte man doch einen Appell an die Kollegen …

Leonskaja: Ach nein, lassen wir das mal (lacht). Ich bin ja selbst schuld. Ständig auf Konzertreisen, Verpflichtungen hier und dort, da findet man schwer einen Termin.

Braucht man andere Menschen, um glücklich zu sein?

Leonskaja: Mit der Frage bin ich nicht so ganz einverstanden. Man ist sowieso glücklich, das ist sozusagen die Grundbedingung. Das ist das Erste, und nur dann kann man mit den Menschen Freude haben. Ich bin kein Philosoph, vielleicht habe ich das jetzt zu einfach formuliert. Mit Worten muss man sehr vorsichtig umgehen. Ich bin schon glücklich, dass ich überhaupt da bin, dass ich Ich bin. Die reine Existenz also.

Das ist doch schön formuliert.

Leonskaja: Na ja, manchmal sind die Gedanken schneller als das Wort, das dazu passt. Kennen Sie Peter Härtling? Der hat etwas sehr Treffendes gesagt. Er hat darüber gesprochen, wie seine Hand der Geschwindigkeit und dem Charakter seiner jeweiligen Erzählung folgt. Manches Mal im langsamsten Schritt, manchmal kaum das rasende Tempo schaffend. Härtling hat einige aufschlussreiche Romanbiografien geschrieben, über Schubert, Schumann und Fanny Hensel-Mendelssohn. Das Buch über Fanny heißt „Liebste Fenchel!“. Und ja: Schubert. Der hatte immer seine Brille auf der Nase, sogar wenn er schlief. So konnte er sofort Musik oder Ideen niederschreiben, wenn ihm etwas einfiel.

Sie geben regelmäßig Meisterkurse. Worauf legen Sie dabei besonderen Wert?

Leonskaja: Auf Ehrlichkeit und ernsthafte Arbeit – und zwar von meiner Seite. Ich kann nichts vermitteln, wenn ich kein Material vor meinen Augen und Ohren habe. Ich bereite mich bestmöglichst vor, aber jeder Schüler ist anders. Es kommen oft ungewöhnliche Fragen, weil für sie ja vieles neu ist. Ich bin nicht besser als sie, nur erfahrener. Sie haben es verdient, dass ich individuell auf sie eingehe. Respekt ist sehr wichtig, wenn ich die richtigen Worte finden will. Sie haben wenig Erfahrung, aber sehr viel Druck, der ihnen oft von zu Hause mitgegeben wird. Deshalb ist es wichtig, dass ich meine Erfahrung mit ihnen teile, denn der Druck nimmt nicht ab, er ändert sich nur mit der Zeit. Ich kann wirklich nicht sagen, ob ich eine eigene, spezielle Methodik habe. Manchmal geschieht das rein intuitiv.

Es gab jemand in Ihrem Leben, von dem Sie wiederum viel gelernt haben: Swjatoslaw Richter. Er fragte Sie einmal: „Können Sie noch leiser spielen?“

Leonskaja: Es war eine ganz einfache Frage, die er mir da gestellt hat, als wir zusammen Mozart probten. Aber diese Frage ist so wichtig! Sie klang lange in mir nach und verfolgte mich – und sie hat mir sehr viel gegeben. Man muss sich entspannen, um wirklich gut leise spielen zu können. Erzwingen kann man das nicht. Das ist eben Selbstvertrauen, und daran muss man arbeiten.

Unmittelbar nach dem Fall der Mauer dirigierte Leonard Bernstein in Berlin Beethovens neunte Sinfonie – und änderte den Schlusschor in „Ode an die Freiheit“. Wie stark darf man als Interpret in einen Text oder eine Partitur eingreifen?

Leonskaja: Das kommt drauf an, welche Intention man damit verfolgt, ob sie im Kontext berechtigt ist und wie stark der Eingriff ist. Auf gar keinen Fall sollte dieser beliebig sein. Bei Bernstein, der ein wirklich großer Musiker, Dirigent und Erklärer war, kann ich die Absicht klar erkennen. Seine Genialität und seine menschliche Qualität haben ihn zu der Entscheidung geführt. Er war so frei – oder sogar befreit –, in diesem Umbruchsmoment der Geschichte „Freude“ durch „Freiheit“ zu ersetzen. Aber ich bin eher ein Verfechter der Werktreue und sehe mich als Musikerin in der Rolle des Mediums, des stets Suchenden. Ich sage mal so: Freiheit ja, Narrenfreiheit nein.

Was brauchen die Menschen heute, abgesehen von Musik?

Leonskaja: Es sind zwei Dinge, von denen ich eben schon gesprochen habe: Respekt und Ehrlichkeit. Respekt den anderen gegenüber, Ehrlichkeit sich und den anderen gegenüber. Und als drittes Offenheit. Alle drei finde ich sehr wichtig.

Album-Tipp:

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Grieg & Schumann: Klavierkonzerte

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