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Blind gehört Mahan Esfahani

„Jetzt erkenne ich es!“

Cembalist Mahan Esfahani hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonMichael Struck-Schloen,

In dieser Saison ist Mahan Esfahani Artist in Residence beim Kölner Gürzenich-Orchester. Das bedeutet Arbeit: Am Abend spielt er in der Philharmonie das neue Cembalokonzert des Tschechen Miroslav Srnka, danach geht es in den Club „King ­Georg“, wo er zusammen mit dem Solooboisten des Orchesters und einem Elektronik-Musiker improvisiert. Eine erstaunliche Vielseitigkeit, bei der man fast vergisst, dass Esfahani auch das gesamte barocke Repertoire von Couperin bis C. P. E. Bach „draufhat“.

J. S. Bach: „Echo“ aus Ouvertüre nach französischer Art BWV 83

Zuzana Růžičková (Cembalo).
Erato 1973

Das ist Růžičková mit dem „Echo“ aus BWV 831, ich erkenne es an der Artikulation. Sie wollte nicht, dass ich ihre Aufnahmen höre – aber ich erkenne sofort ihren Stil. Die Französische Ouvertüre hat sie in Paris für Erato eingespielt, möglicherweise auf einem Neupert. Aha, ein Ammer-Cembalo … ein sehr gutes Instrument für diese Zeit! Man vergisst gern, dass es eine starke Alte-Musik-Bewegung in der Tschechoslowakei gab, schon vor dem Zweiten Weltkrieg hat man dort Cembali gespielt. Sieben Jahre bis zu ihrem Tod im Jahr 2017 war ich Student von Zuzana Růžičková, und meist hat sie im Unterricht nur über die Musik selbst gesprochen. Natürlich waren auch die Zeitumstände und die Aufführungspraxis Thema, aber dann ist sie fast automatisch auf das Innenleben und den Gehalt der Musik gekommen. Sie hat sich wirklich sehr um mich gekümmert, auch bei persönlichen Problemen lieh sie mir ihre, sagen wir: sorgende mütterliche Hand.

Ligeti: Continuum

Justin Taylor (Cembalo).
Alpha 2018

Das ist natürlich Ligetis „Continuum“, die Frage ist: Wer spielt? Meine CD ist es nicht – ist es Elżbieta Chojnacka, Antoinette Vischer? Eine großartige Aufnahme, hier wird sehr genau realisiert, was der Komponist wollte – wer ist das? Justin Taylor, sehr beachtlich. Ich würde vielleicht für Ligeti nicht dieses Instrument benutzen, aber er spielt außergewöhnlich gut.

Couperin: Les barricades mystérieuses

Ralph Kirkpatrick (Cembalo).
Live-Mitschnitt 1977

Couperins „Barricades mystérieuses“, ziemlich schnell gespielt. Ich glaube, es ist ­Ralph Kirkpatrick, ich erkenne ihn an den Kadenzen, cool! Ich habe ein Buch über Kirkpatrick begonnen, über den es nicht viel Literatur gibt. Er ist der Link zwischen der Renaissance des Cembalos am Beginn des 20. Jahrhunderts und der Wiederbelebung der historischen Aufführungspraxis. Und er ist einer der letzten Cembalisten mit einer ganz normalen Karriere als Tastenspieler. Seine Kollegen waren Leute wie Karajan oder Horowitz, keine Spezialisten für Alte Musik. Er ist einer meiner großen Vorbilder, er hat Werke bei Elliott Carter bestellt, der Cembalopart in Strawinskys Oper „The Rake’s Progress“ wurde für ihn geschrieben, Henry Cowell hat für ihn komponiert. Auch ich möchte als Cembalist ein Kollege der großen Pianisten von heute sein. Wenn Pianisten mich anerkennen, kann ich zufrieden sein – um die Cembaloszene kümmere ich mich nicht so sehr.

J. S. Bach: Präludium & Fuge E-Dur BWV 878

Glenn Gould (Cembalo).
Sony 1972

Oh, das kenne ich: Glenn Gould spielt Bach auf einem Wittmayer-Cembalo. Ich habe über Gould am Cembalo zwei lange Artikel geschrieben. Er gilt, vor allem in den USA, als intellektueller Musiker – aber als solcher könnte er ein bisschen genauer über das Medium nachdenken, das er benutzt. Er hat absolut keine Sympathien für das Cembalo, sondern überträgt einfach seinen pointillistischen Klavierstil auf das Instrument. Das ist ziemlich fatal für das Image, denn die Leute denken: Okay, das Cembalo ist ein unvollkommenes Klavier. Irgendwer hat mal geschrieben, ich sei der Glenn Gould des Cembalo – und ich habe ihm gesagt: Bitte, lass das! Gould war ein großer Künstler, aber nicht, weil sein Bach historisch korrekt war, sondern weil er ihn wie Glenn Gould gespielt hat. Leider hat er ignoriert, dass es zwischen Klavier und ­Cembalo einen Unterschied gibt.

Bartók: „Aus dem Tagebuch einer Fliege“ aus Mikrokosmos

Huguette Dreyfus (Cembalo).
harmonia mundi 1969

Keine Ahnung, was soll das sein? Ist das Bartók? Dann ist es Huguette Dreyfus mit ihrer Bartók-Aufnahme, jetzt erkenne ich es: das „Tagebuch einer Fliege“! Bartók hat ja freigestellt, die letzten beiden Hefte des Mikrokosmos auch auf anderen Instrumenten zu spielen – übrigens hat sein Sohn Péter Bartók das Cembalo geliebt. Ich muss das Stück unbedingt mal lernen, brillante Idee! Manchmal gibt es Probleme, wenn ich Klaviermusik auf dem Cembalo spielen will. Ich habe es mit Prokofjews „Visions fugitives“ oder dem Klavierpart in Strawinskys Septett versucht, aber die Erben haben es mir verboten. Natürlich ist das eine Gratwanderung, und ich würde niemals Werke von Liszt oder Rachmaninow auf dem Cembalo spielen.

R. Strauss: Gavotte aus der Tanzsuite aus Klavierstücken von François Couperin

COE, Erich Leinsdorf (Ltg).
ASV 1988

Zuerst habe ich gedacht, das ist einer dieser neobarocken Franzosen – aber es klingt wie ein moderner Pastiche. Martinů ist es nicht, er hat mehr Tiefe, das hier klingt wie „Couperin light“. Richard Strauss hat das komponiert? Ich liebe Strauss, aber das ist eine seltsame Art, das Cembalo zu benutzen. Für die Komponisten der 1920er-Jahre war es ein „modernes“ Instrument mit ganz neuen Klangmöglichkeiten. Aber Strauss setzt es ein wie ein Bühnenrequisit, das etwas Nostalgisches beschwört: die Erinnerung an eine Zeit, in der es wichtiger war, wie man die Dinge sagt, als was man sagt. Strauss war damals nicht der einzige, der sich für das Cembalo interessiert hat – wenn wir an Mahler denken oder an Bruno Walter, die auch selbst Continuo gespielt haben.

D. Scarlatti: Stabat Mater

Concerto Italiano, Rinaldo Alessandrini (Ltg).
Opus 111 1999

Da müsste ich raten: Antonio Lotti? Nicht, dann könnte es das zehnstimmige „Stabat Mater“ von Domenico Scarlatti sein – ein sehr schönes Stück, ich habe es einmal im Konzert gehört. Scarlatti wird außerhalb von Spanien oft unterschätzt als Komponist von Sonaten nach der immergleichen Masche, den man nicht so ernst nimmt. Ich finde, er ist ein sehr ernsthafter Komponist – deshalb spiele ich als Zugaben meist die langsamen Sonaten, tief empfundene Stücke. Dazu fällt mir eine kuriose Geschichte ein. Am Beginn meiner Karriere habe ich viel Scarlatti gespielt. Dann hat ein mittlerweile verstorbener Cembalist in Gegenwart von Kollegen gesagt: Ihr Franzosen beherrscht eure Musik, die Deutschen verstehen Bach – und du (er wandte sich an mich) kommst von irgendwoher und kannst Scarlatti spielen. Eine superarrogante Bemerkung! Und ich war so geknickt, dass ich Jahre lang nur Sweelinck, Bach, Byrd oder neue Musik gespielt habe – weil ich mir gesagt habe: mache dir einen Namen mit Bach, dann werden sie auch deinen Scarlatti akzeptieren.

D. Scarlatti: Sonate K 490

Wanda Landowska (Cembalo).
EMI 1940

Das kenne ich: K 490 von Scarlatti, gespielt im März 1940 von Wanda Landowska – eine berühmte Aufnahme, weil am Ende französische Luftabwehrgeschütze zu hören sind. Das bringt einen auf die interessante Frage, inwieweit sich Musik in einem bestimmten Kontext verändert oder nicht. Der Zufall will es, dass Landowska in dem Moment, als die Kanonen donnern, eine fast martialische Sonate spielt. Wahrscheinlich hat das Stück eher mit der Zeremonie der „Semana Santa“ in Sevilla zu tun, aber es bekommt hier eine andere Bedeutung. Trotzdem wäre ich vorsichtig mit solchen Zuschreibungen, welche die Kunst politisch aufladen. Denn wir haben in der Geschichte gesehen, dass Manipulationen von jeder Seite passieren können – auch von der schlechten. Das ist sehr riskant.

J. S. Bach: Variatio 16 aus den Goldberg-Variationen BWV 988

Andreas Staier (Cembalo).
harmonia mundi 2009

Die 16. Variation aus den „Goldberg-Variationen“, höchstwahrscheinlich die Aufnahme mit Andreas Staier. Ich kenne das Cembalo nach dem Vorbild von Hass mit dem 16-Fuß-Register, und ich weiß, dass Andreas das Instrument liebt, eine großartige Aufnahme. Und ich finde es gut, dass er nach dieser Begeisterung für die klanglich schlanken „Originalinstrumente“ in den sechziger Jahren keine Angst hat, Bach auf diesem prachtvoll klingenden Instrument zu spielen. Und ich muss gestehen, dass ich in meinen Bach-Aufnahmen vor allem von der älteren Generation von Cembalisten inspiriert werde: Landowska, Kirkpatrick oder Rafael Puyana. Wir alle haben Eltern, auf die wir positiv oder negativ reagieren.

Album-Tipp:

Album Cover für J. S. Bach: Ital. Konzert BWV 971, Französische Ouvertüre BWV 831 u. a.

J. S. Bach: Ital. Konzert BWV 971, Französische Ouvertüre BWV 831 u. a.

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