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Blind gehört Andreas Reize

„Mein Tag ist glücklich ausgefüllt“

Der Leipziger Thomaskantor Andreas Reize hört und kommentiert Aufnahmen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonChristian Schmidt,

Der ehemalige Solothurner Sängerknabe An­dreas Reize ist in Leipzig angekommen. Publikum wie Presse liegen dem schon nicht mehr ganz neuen Thomaskantor zu Füßen. Das war alles andere als selbstverständlich für einen Schweizer, der sich gerade ohne einheimischen Stallgeruch besonders bewähren zu müssen schien. Ein ­Katholik als Nachfolger von Johann Sebastian Bach? Längst sind die unrunden Monate seiner Berufung kein Thema mehr, haben auch die Thomaner selbst ihren Frieden mit ihrem Chef gemacht. Das lag weiß Gott nicht an seiner Konversion zum Protestantismus. Vielmehr hat der 47-Jährige ein goldenes Händchen im Umgang mit den Chorsängern. Aber er ist auch sehr firm in der Musik, die sie von ihm erwarten. Gleichwohl behält er die Barockoper, sein „erstes Kind“, wie er im „Blind gehört“-Interview sagt, im Herzen.

Rousseau: Le Devin du Village

cantus firmus Kammerchor & Consort, Andreas Reize (Leitung)
cpo 2006

Ich glaube, das ist meine Aufnahme. Spielen Sie nochmal den Chor. Das ist der Streit zwischen den Lullynisten und Raministen. Rameau wurde ja wie Bach für seine Verschnörkelungen stark angegriffen. Rousseau wollte mit seinem Operchen zurück zur Natur. Der Philosoph war Hobbykomponist und hat sogar einen großen Dictionnaire du Musique geschrieben – ein Standardwerk über die französische Musik. Natürlich war er ein kluger Kopf, als Komponist aber jetzt kein riesengroßer Künstler. Ihm ging es darum, das einfache Landleben in Versailles nachzuspielen. Die Barockoper pflege ich weiter, im Sommer machen wir in Solothurn Platée von Rameau. Sie ist mein erstes Kind, das ich behalte.

Theodorakis: Requiem

St. Petersburg State Academic Capella Choir & Symphony Orchestra, Mikis Theodorakis (Leitung)
Intuition Records 1999

Wegen der Kantatentradition, die mir sehr wichtig ist, haben wir nur wenig Zeit, solche Sachen mit großem Orchester zu machen. Zu Bachs Zeit war zeitgenössische Musik völlig normal. Heute sieht man das leider anders, da hat man das Gefühl, die gehöre nicht mehr dazu. Ich wehre mich dagegen, dass der Kanon der Chor- und Orchestermusik nur in der Vergangenheit gesehen wird. Wir haben ja selbst Kompositionsaufträge vergeben, die uns fordern, teilweise überfordern, aber das ist mir ganz wichtig. Jörg Widmann wird für das Bachfest im Juni schreiben – ich habe noch keine einzige Note gesehen. Aber das ist ja so wie früher bei den Thomanern.

J. S. Bach: Matthäus-Passion

Tölzer Knabenchor, Thomanerchor, Gewandhausorchester, Riccardo Chailly (Leitung)
Decca 2010

Die Bässe führen gut von unten, das sind keine Laien! Ich vermute, dass der Knabenchor entweder mit Profis verstärkt ist oder mit einem anderen Chor zusammensingt. Thomaner? – Dann kommt nur die Aufnahme mit den Tölzern in Frage: Chailly hat da trotzdem noch Männer dazugeholt, behaupte ich. Das Stück kenne ich seit meiner Kindheit, obwohl wir immer nur die „Johannes-Passion“ gesungen haben, weil „Matthäus“ einen zweiten Chor braucht. Das war zu groß für Solothurn. Trotzdem durften wir damals viel mehr evangelische als katholische Kirchenmusik singen.

Gabriel’s Message

Singknaben der St. Ursenkathedrale Solothurn, Andreas Reize (Leitung)
Rondeau 2016

 

Das ist unsere Weihnachtsaufnahme aus Solothurn, aber ich weiß den Namen des Arrangeurs nicht mehr. Die Männer klingen sehr kultiviert, das ist ja nicht immer der Fall. Hin und wieder bringe ich solche englische Musik mit hierher, man muss da immer sehr auf die Mischung mit den althergebrachten deutschen Großmeistern achten. Aber unsere Jungs sind sehr offen und interessieren sich für diese Musik.

Martin: Messe für Doppelchor

The Choir of Westminster Cathedral, James O’Donnell (Leitung)
Hyperion 2020

Ist das mein Landsmann Frank Martin? Von der Messe wurden bei uns bisher immer nur Kyrie und Gloria gesungen. Das Sanctus wird in unserer Liturgie ja eigentlich nicht gebraucht. Das muss ein englischer Knabenchor sein, der sich die „Trebles“ hochzüchtet und alle anderen Stimmen mit Profis auffüllt, auch den Alt. Dort gibt es ein knallhartes Auswahlverfahren. Als Georg Christoph Biller mal in England war, wollte er hier plötzlich auch alles so umkrempeln, aber ich glaube, das wäre zu elitär. Wir wollen ja nicht nur die allerbesten der Besten nehmen, sondern ich verstehe es als unseren Auftrag, möglichst viele talentierte Jungen zu fördern, auch nach der Mutation.

Rachmaninow: Das große Abend- und Morgenlob op. 37

Choir of King’s College Cambridge, Stephen Cleobury (Leitung)
EMI 1999

Das dürfte die Rachmaninow-Vesper sein, wir machen gerade in der Motette ein Stück aus der Chrysostomos-Liturgie. Die Jungs sind sehr begeistert davon. Auch aus dem Publikum kommen sehr angerührte Menschen zu mir und sind dankbar für diese Musik. An der Aufnahme merkt man, dass russische Musik sehr tiefe Bässe verlangt und daher für einen Knabenchor schwierig zu machen ist. Unsere Jungs kommen maximal bis zum C, nicht wie hier bis zum Kontra-B, das natürlich auch klingen muss. Selbst Rundfunkchöre kaufen sich dafür Leute dazu.

C. P. E. Bach: Heilig Wq 217

Kammerchor & Barockorchester Stuttgart, Frieder Bernius (Leitung)
Carus 2004

(erschrickt beim subito forte) Es mag an der Anlage hier liegen, aber die Pauken sind nicht gut ausgesteuert. Haben Sie den Text im Booklet? Man versteht ihn schlecht. Jetzt erkenne ich es: Das große „Heilig“ von Carl Philipp Emanuel, wir haben bisher nur das kleine gemacht. Tolle Musik! Ich schätze, das waren auf jeden Fall barocke Trompeten. Stuttgart? Ah ja, Bernius. Der Chor dringt textlich leider nicht sehr gut durch, aber es sind auch sehr lange Notenwerte.

J. S. Bach: Wer mich liebet, der wird mein Wort halten

Robert Pohlers (Alt), Thomanerchor, Georg Christoph Biller (Leitung)
Rondeau 2007

Das sind die Thomaner mit dem Gewandhaus. So einen Knabenaltisten hat man nicht alle Tage, auch wenn er ein bisschen zu stark abphrasiert und in der Tiefe forciert, aber auf Volumen werden die Solisten getrimmt, damit sie gegen das Orchester ankommen. Ich sehe das ein bisschen anders, würde mir auch mehr Legato wünschen. Das Vibrato in den Streichern würde man heute auch anders machen, die Aufnahme ist sicher schon etwas älter. Robert Pohlers? Ein toller Knabenalt, er ist ja direkt nach dem Abitur als Erster Tenor ins Ensemble amarcord eingetreten.

Brahms: Ein deutsches Requiem

Dresdner Kreuzchor, Vocal Concert Dresden, Roderich Kreile (Leitung)
Berlin Classics 2013

Oh schön, Brahms! Singt das etwa ein Knabenchor? Das würde ich mit Kindern nicht machen, da hätte ich schon rein pädagogisch ein schlechtes Gewissen. Man hört es ja hier: Das Requiem braucht Breite ohne Ende im Körper, auf die Stimme übertragen. Die Soprane machen oben zu, dann sind sie zu tief. Intonatorisch ist das Brahms-Requiem extrem schwer. Bei Mendelssohn hätte ich dagegen keine Bedenken. Aber Brahms ist für ein Kind natürlich ein Erlebnis: Wenn man das in jungen Jahren gesungen hat, trägt es einen ein Leben lang. Der Kreuzchor? Ich glaube, Roderich Kreile hatte auch immer einen Kammerchor zur Unterstützung mit dabei. Ich kenne ihn ja erst seit Kurzem persönlich. Er war menschlich immer sehr angenehm und hat in Dresden einen modernen Chor aufgestellt, da hat man schon hingesehen. Die Aufnahme muss ich mir jedenfalls auch besorgen.

Monteverdi: L’incoronazione di Poppea (1651)

cantus firmus consort, Andreas Reize (Leitung)
Rondeau 2021

Das ist meine eigene aktuelle Aufnahme, die auf der Long­list vom Deutschen Schallplattenpreis steht. Wir waren frech genug, die Neapel-Fassung einzuspielen, die es so als Edition nicht gibt, sondern ich musste sie selber aus dem Manuskript herstellen. Das ist sozusagen eine Weltersteinspielung!

Mozart/Levin: Messe c-Moll

Gächinger Kantorei, Bach-Collegium Stuttgart, Helmuth Rilling (Leitung)
hänssler 2005

Das ist Pseudo-Mozart, vermutlich die Levin-Ergänzung? Ich würde mich immer dagegen entscheiden. Wenn Sie im „Don Giovanni“ sitzen, merken Sie schnell, dass nur Mozart eben Mozart sein kann. Das ist eine Mischung aus Ehrfurcht und Gefühl. Letzteres ist immer der beste Ratgeber. Wenn es nur um Ehrfurcht ginge, könnte ich hier ja gar nicht arbeiten. Kürzlich wurde ich gefragt, ob ich glaube, dass sich Bach schon mal im Grabe herumgedreht hat, als er meine Interpretation hörte. Da sagte ich unumwunden ja: Er war schon zu Lebzeiten kaum zufriedenzustellen mit dem, was er angeboten bekam. Bach oder Mozart sind die Vollendung in sich. Das zu ergänzen, würde ich mir selbst nie zutrauen. Ich bin viel zu schlecht, um selbst zu komponieren, daher werde ich auch nie in Billers Fußstapfen treten, weil ich mir nie genügen würde. Mein Tag ist glücklich ausgefüllt von morgens bis abends, fürs Komponieren würde mir die innere Ruhe fehlen.

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